Ein Memorandum der Gesellschaft fuer bedrohte Voelker International
Bozen, 18. November 1999
Bombenkrieg als Wahlkampf-Auftakt .: oben :.
Seit dem 5. September 1999 haben die russischen
Streitkräfte einen neuen Bombenkrieg gegen das kleine
Kaukasusland Tschetschenien begonnen, drei Monate vor den Wahlen
der russischen Staatsduma am 19.12.1999. Russland führt ihn
unter dem Vorwand, angebliche "Terroristen" zu bekämpfen. Zu
den schrecklichen Bombenattentaten in Moskau und Wolgodonsk, bei
denen mehr als 300 Menschen ums Leben kamen, gebe es eine
tschetschenische Spur, behauptet die Propaganda der russischen
Regierung. Eine solche Spur hat sich bis heute nicht nachweisen
lassen.
Kurz vor den Anschlägen und der neuen russischen Invasion
in Tschetschenien war bekannt geworden, dass die amerikanischen
und schweizerischen Behörden wegen der Geldwäsche und
Veruntreuung internationaler Hilfsgelder durch die russische
Regierung in Milliardenhöhe ermittelten.
Russland-Kenner und Beobachter äußerten deshalb die
Vermutung, dass auch der zweite Tschetschenien-Krieg, wie schon
der von 1994, vom Zaun gebrochen wurde, um von innenpolitischen
Problemen abzulenken. Auch die Witwe des sowjetischen
Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Andrei
Sacharow, Jelena Bonner, bezichtigt die russische Führung,
mit dem neuen Tschetschenien-Krieg innenpolitische Probleme zu
überdecken.
Die russische Regierung unter Führung des ehemaligen
KGB-Offiziers und Wirtschaftsspions Wladimir Putin gibt jetzt
offen zu, dass sie vorhat, Tschetschenien ganz zu besetzen und
die gewählte Regierung des tschetschenischen
Präsidenten Aslan Maschadow zu beseitigen. Der ehemalige
russische Menschenrechtsbeauftragte Sergej Kowaljow, von Boris
Jelzin wegen Kritik am ersten Tschetschenien-Krieg aus dem Amt
gejagt, bezeichnet den russischen Bombenkrieg in Tschetschenien
als rassistisch motivierte "faktisch ethnische Säuberung",
die gezielt durch die Putin-Regierung gesteuert werde.
Abriegelung der Grenzen Tschetscheniens 1999 durch russische Truppen, Verhinderung humanitärer Hilfe .: oben :.
Am 5.9. 1999 begann die russische Luftwaffe mit neuen
Bombenangriffen auf Ortschaften in Tschetschenien. Bis zum
1.11.1999 waren nach Angaben verschiedener internationaler Hilfs-
und Menschenrechtsorganisationen rund 200.000 Tschetschenen vor
den russischen Bombenangriffen in das benachbarte Inguschetien
und nach Südrussland geflohen. Schätzungsweise ebenso
viele Menschen irrten innerhalb Tschetscheniens umher. Die
Gesamtzahl der Flüchtlinge betrug somit 350.000 bis 400.000:
die Hälfte der tschetschenischen Bevölkerung. Vom 5.9.
bis 6.11.1999 gab die russische Regierung 390 Millionen US-Dollar
für den Einsatz aus.
Die russische Armee riegelte am 23.10.1999 die Grenzen
Tschetscheniens komplett ab. Am 31.10.1999 wurde auch die
wichtigste Verbindungsstraße nach Georgien, in den
Süden, bombardiert und unpassierbar gemacht. Zuvor hatten
sich auf diesem Weg noch etwa 2.500 Flüchtlinge -
ausschließlich Frauen, Kinder und Greise - in dramatischen,
mehrtägigen Fußmärschen über das Hochgebirge
nach Schatili in Georgien retten können. Nach Angaben der
Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft seien diese Menschen bei der
Flucht von der russischen Luftwaffe bombardiert worden.
Auf tschetschenischer Seite vor der Grenze zu Inguschetien
warteten nach Angaben des Flüchtlingshilfswerkes des
Vereinten Nationen (UNHCR) Anfang November 1999 Tausende
Flüchtlinge in einem Treck von 15 Kilometer Länge in
Schnee und Regen auf die Möglichkeit zur Ausreise.
Der inguschetische Präsident Ruslan Auschew warnte am
2.11. 1999 vor weiteren 100.000 Flüchtlingen, falls die
russischen Truppen die tschetschenische Hauptstadt Grosny
stürmen sollten. Der UNHCR sprach am 3.11.1999 von bis zu
150.000 neuen Flüchtlingen, die nach Inguschetien
drängten. Internationale Hilfsorganisationen haben seit
Wochen keinen Zutritt nach Tschetschenien. Nicht einmal
Ärzte und Krankenschwestern wurden über die Grenze
gelassen. Tausende Alte, Geschwächte und Mittellose blieben
in Tschetschenien zurück, sei es, weil sie zu schwach waren,
um die Grenze zu erreichen, oder weil sie die Kopfgelder in
Höhe von 60 US-Dollar nicht aufbringen können, die die
russischen Grenzposten als Wegezoll verlangten.
Die russische stellvertretende Ministerpräsidentin
Walentina Matwijenko bestritt, dass es sich bei den notleidenden
Menschen um Flüchtlinge handele.
Russische Flächenbombardements .: oben :.
Tschetschenische Städte und Ortschaften wie Grosny, Gudermes, Schali, Sernowodsk usw. werden russischer Luftwaffe und Artillerie täglich systematisch bombardiert. Die in Grosny Zurückgebliebenen leben in dunklen, ausgekühlten Häusern, aus Angst vor den ununterbrochenen Angriffen in Kellern. Es gibt kein Trinkwasser, keinen Strom, keine Heizmittel, keine Lebensmittel, keine ärztliche Versorgung. Auch die Krankenhäuser haben weder fließendes Wasser noch Strom. Den Kranken kann kaum noch geholfen werden. Nach Angaben der russischen Menschenrechtlerin Jelena Bonner sterben täglich Dutzende Menschen, vor allem Alte und Kinder, an Verletzungen, Entkräftung und Kälte.
Entgegen den Behauptungen der russischen Regierung berichten tschetschenische und internationale Menschenrechtsgruppen, aber auch Journalisten, dass die russischen Angriffe sich gegen Zivilisten und zivile Objekte richten. Artillerie, Kampf-Jets und Raketen werden eingesetzt. Flüchtlinge berichteten, russische Kampfhubschrauber feuerten auf alles, was sich bewegt. Durch die Bombardierung von Industrieanlagen drohen Tschetschenien nach Angaben der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft schwere ökologische Dauerschäden. Die Sundscha und der Terek, die ins Kaspische Meer fließen, seien in Folge beschädigter Chemieanlagen vergiftet. Unkalkulierbare Gefahren ergäben sich auch durch die Bombardierung eines Kombinats bei Grosny, in dem atomare Rückstände gelagert würden.
Das Massaker auf dem Basar in Grosny am 21.10.1999 .: oben :.
Am Nachmittag des 21.10.1999 (gegen 17 Uhr) feuerten die
russischen Truppen acht Raketen auf den belebten zentralen Basar
der tschetschenischen Hauptstadt Grosny ab. Dem russischen
Fernsehsender NTW zufolge wurden 188 Menschen getötet und
über 400 verletzt. Nach einem Bericht der tschetschenischen
Menschenrechtlerin Z.G. waren die überwiegende Mehrheit der
Opfer Frauen beim Einkaufen. Bei den Geschossen habe es sich um
Boden-Boden-Raketen gehandelt. Die meisten Opfer forderten die
zweite und dritte Rakete, die in einen Bus sowie mitten in die
Menschenmenge einschlugen.
Das russische Verteidigungsministerium und
Ministerpräsident Wladimir Putin bestritten am 22.10.1999,
dass es überhaupt einen Angriff auf den Markt in Grosny
gegeben habe. Die Tschetschenen selbst, so behauptete der
russische Regierungssprecher Aleksandr Michailow, hätten
eine Bombe auf dem Markt gezündet, um das Gipfeltreffen
Russlands mit der Europäischen Union zu belasten. Doch nach
einem Bericht des Nachrichtensenders NBC hatten amerikanische
Satelliten des "Defense Support Program (DSP)" den russischen
Raketenangriff auf Grosny aufgezeichnet. Der Präsident von
Tschetscheniens Nachbarland Inguschetien, Ruslan Auschew,
widersprach der Moskauer Darstellung ebenfalls. Die Moskauer
Regierung habe taktische Raketen des Typs Totschka-U abgefeuert,
sagte Auschew am 25.10.1999. Die Präzisionsschläge
hätten wahrscheinlich dem tschetschenischen Generalstab
gegolten, der in der Nähe getagt habe, und ihr Ziel
verfehlt, so Auschew.
Zeugenaussagen von Überlebenden des Massakers, die von der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch befragt wurden, belegen, dass der tschetschenische Guerilla-Führer Schamil Bassajew in der Nähe des Marktes offenbar einen wichtigen Kommandoposten eingerichtet hatte. Dies wäre ein ebenso gravierender Verstoß gegen die Genfer Konventionen wie der russische Raketenangriff auf den belebten Markt. Bei einer Talkshow im russischen Sender NTW am 28.10. 1999 gab der russische General Schamanow zu, dass es sich um Raketen gehandelt habe, deren Einsatz nur von der obersten Führung befohlen werden kann.
Bombardierung von markierten Fahrzeugen des Roten Kreuzes .: oben :.
Nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes in Genf wurden 25 Menschen, darunter zwei Rotkreuz-Mitarbeiter und Kinder, getötet, als die russische Luftwaffe am 29.10.1999 einen Flüchtlingskonvoi bei der Ortschaft Schami-Jurt angriff. 70 Menschen seien verletzt worden. Es habe sich um eine Kolonne von 5 Fahrzeugen gehandelt. Alle Fahrzeuge seien mit dem Emblem des Roten Kreuzes klar markiert gewesen.
Erschießungen von Zivilisten, Plünderungen und Beraubung von Flüchtlingen durch russische Truppen in den eroberten Gebieten Tschetscheniens .: oben :.
Der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) liegt
ein Bericht der tschetschenischen Menschenrechtsorganisation
"Frauen des Nordkaukasus" vor, wonach die russischen Truppen in
den von ihnen kontrollierten Gebieten offenbar Zivilisten
hingerichtet haben. In den Regionen "Naurski Rayon" und
"Gorogorski Rayon" sollen in der letzten Oktoberwoche 1999
"Säuberungen", verbunden mit Hausdurchsuchungen und
Plünderungen, durchgeführt worden sein.
In der Region "Naurski Rayon" habe ein Augenzeuge am 28.10. 1999
die Erschießung von 80 Männern beobachtet. Die
tschetschenische Menschenrechtsorganisation berichtete
außerdem, dass die russischen Truppen Flüchtlinge
gezwungen hätten, sich nackt auszuziehen, und dann die
Herausgabe ihrer Wertsachen verlangt hätten. Dies sei unter
dem Vorwand geschehen, die Flüchtlinge würden angeblich
Waffen bei sich tragen.
Die GfbV befürchtet, dass Russland in den eroberten
Gebieten erneut Konzentrationslager für Tschetschenen im
wehrfähigen Alter errichtet, wie schon 1994-1996. Damals
wurden in sogenannten "Filtrationslager" Hunderte Tschetschenen
ab 14 Jahren bestialisch gefoltert und hingerichtet.
Massengräber wie die im berüchtigten Lager PAP-1 in
Grosny konnten nicht exhumiert werden, weil die russischen
Streitkräfte sie beim Abzug 1996 verminten.
Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die tschetschenische Seite .: oben :.
Der GfbV liegen jedoch auch erste unbestätigte Berichte
vor, wonach tschetschenische paramilitärische Formationen
Männer im wehrfähigen Alter mit Gewalt daran hindern,
das Land zu verlassen, und für die Landesverteidigung
zwangsrekrutieren. Sollten sich diese Berichte bewahrheiten, dann
müssen die tschetschenischen Kommandeure für eine
Verletzung der Genfer Konventionen verantwortlich gemacht
werden.
Die GfbV ist außerdem in großer Sorge angesichts von
Hinweisen, wonach tschetschenische Truppen in der Nähe
ziviler Objekte Positionen eingenommen und Stützpunkte
eingerichtet haben sollen. Dies wäre eine schwere Verletzung
der Genfer Konventionen, in denen der Missbrauch von
Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde geächtet
ist.
Empfehlungen der Gesellschaft für bedrohte Völker .: oben :.