Von Tilman Zülch
Bozen, 22. März 2004
Vor uns liegt eine bestürzende Bilanz des Antisemitismus
in Deutschland, Österreich und Südtirol, in Italien,
dem übrigen Westeuropa und im Osten unseres Kontinents. Der
viele Jahrhunderte alte religiöse Antisemitismus, der bis
heute z. B. in manchen katholischen Regionen der Alpenländer
überdauert hat, der Rassenantisemitismus, der von Wien ganz
Deutschland eroberte, mischt sich jetzt mit dem Antijudaismus der
fanatischen Islamisten im Nahen Osten wie in Europa. Nichts davon
ist endgültig überwunden, ist endgültig
ausgestanden.
Dabei war die islamische Welt einst tolerant gegenüber Juden
wie Christen. Erst nach der christlichen Eroberung des
mittelalterlichen Andalusien endete dieses Zusammenleben. Die
spanischen Juden fanden Zuflucht im Osmanischen Reich.
Ladinosprachige jüdische Gemeinden entstanden in Smyrna und
Rhodos, in Konstantinopel, in Thessaloniki und Sarajewo. Die
großen jüdischen Gemeinden in Griechenland wurden von
den Nazis vernichtet. Der Gemeinde in Sarajewo versetzten die
serbischen Belagerer vor einem Jahrzehnt den Todesstoß.
Nach der Gründung Israels flüchteten Hunderttausende
Juden aus den arabischen Ländern oder wurden von der
Regierung Israels gerufen. In Bagdad wurden irakische Juden unter
dem Beifall Zehntausender Zuschauer auf öffentlichen
Plätzen hingerichtet. Israel, eine Stätte der Zuflucht
für Juden aus aller Welt, bis Indien und Äthiopien,
fürchtet ständig um sein Überleben. Die Besetzung
Restpalästinas, das Vorschieben israelischer Siedlungen, hat
den Unfrieden in der Region ein Stück verstärkt. Die
ideologische Basis für arabischen und islamischen
Antisemitismus war so vorbereitet.
In Deutschland paart sich der Antisemitismus heute oft mit
Ausländerhass, Rassismus und mit Ressentiments gegen
russlanddeutsche Aussiedler. Nach der Vertreibung der deutschen
Juden im Mittelalter bezeichnen viele Überlebende des
Holocaust bitter dieses singuläre Verbrechen deutscher
Geschichte als Konsequenz Jahrhunderte langen Antisemitismus. Der
Holocaust ist in nicht wenigen westlichen Staaten zum Synonym von
Genozid überhaupt geworden. Die Vernichtung der Mehrheit der
europäischen Juden, von sechs Millionen Kindern, Frauen und
Männern wird vor allem Deutschland und Österreich
für immer belasten, in deren Namen die Verbrechen
durchgeführt worden. Viele Hände wirkten zusammen bei
Deportationen und Transporten wie bei den Morden. Viele Deutsche
widersetzten sich, auch Hunderttausende nichtjüdische
Deutsche litten oder starben in Konzentrationslagern.
Kollektivschuld kann es schon deshalb nicht geben, aber
Kollektivscham, wie sie Bundespräsident Theodor Heuss
gefordert hatte.
Kurze Zeit nach dem Bau der Berliner Mauer - ich arbeitete in
Berlin bei einer Versicherungsgesellschaft - befragte mich
Abraham Heyman, ein damals etwa 50-jähriger jüdischer
Rechtsanwalt, über den Zweck der als Ruine belassenen Kaiser
Wilhelm Gedächtniskirche. Ich erklärte ihm den Sinn des
Mahnmals. Wir kamen ins Gespräch. Heyman war als Abgesandter
John Kennedys für ein knappes Wochenende in die "Frontstadt"
Berlin geschickt worden. Wir sprachen bis zum frühen Morgen
miteinander. Heymans Familie kam aus Litauen. Niemand von seinen
Verwandten hatte den Dolchstoß aus Deutschland erwartet,
sagte er. Man erwartete von dort Emanzipation und Fortschritt.
Der Holocaust traf die Juden Osteuropas völlig
unvorbereitet. Immer mehr junge Deutsche und Österreicher
sind Kinder ausländischer Einwanderer und weisen
Verantwortung, auch die "kollektive Scham" zurück. Mag sein,
dass historische, nicht persönliche Verantwortung einen
Patriotismus voraussetzt, den viele hier gar nicht teilen, weil
sie sich nur als Europäer verstehen.
Aber in Deutschland und Österreich haben die
Nationalsozialisten dafür gesorgt, dass wir unsere
Orientierung verloren haben, weil wir einen Teil der
Bevölkerung aus unserer Mitte gerissen, vernichtet oder
vertrieben haben, der unendlich zur deutschen Kultur beigetragen
hat, deutsche und deutschsprachige Juden, nicht nur aus dem
Weimarer Deutschland, aus Österreich, aus Böhmen,
Ungarn, Kurland oder Czernowitz. Man braucht nur einen Teil
dieser großen Namen Revue passieren lassen und ist noch ein
Stück mehr beschämt: Heinrich Heine, Max Liebermann,
Siegmund Freud, Paul Ehrlich, Karl Landsteiner, Elisabeth
Bergner, Max Reinhard, Therese Giese, Vicki Baum, Fritz Haber,
Martin Buber, Leo Beck, Albert Balin, Walther Rathenau, Niels
Bohr, Otto Hahn, Lise Meitner, Albert Einstein, Max Born, Paul
Celan, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky,
Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka, Robert Jungk, Ernst Bloch,
Arnold Zweig, Jakob Wassermann, Ernst Toller, Egon Erwin Kisch,
Else Lasker-Schüler, Erich Fried, Arthur Köstler, Manes
Sperber, Salcia Landmann, Hanna Arendt usw.
Wir sind heute nicht mehr stolz auf die "Helden" des I.
Weltkrieges, bedauern aber schon die Millionen, die gefallen
sind. Dass dazu prozentual mehr deutsche Juden als deutsche
Christen gehörten, dokumentiert einmal mehr unsere Schande.
Auch die Konsequenz jüdischer Persönlichkeiten
ausgerechnet 1945, als das ganze Ausmaß des Holocaust
bekannt wurde, die Vertreibung der Millionen Ostdeutschen zu
verurteilen: als untilgbare Schande der Alliierten zu bezeichnen,
so zum Beispiel Viktor Gollancz, und eine Luftbrücke
für Flüchtlingskinder zu initiieren, die
sudetendeutsche Kinder aus dem Benes-Stadion in Prag zu
versorgen, wie der zu Unrecht vergessene deutsch-böhmisch
Dichter H. G. Adler, Verfasser des Standardwerkes über das
KZ Theresienstadt mit einer Passage zum Gedenken an die
späteren Häftlinge, sudetendeutsche Kinder, Frauen und
Männer, meistens Unschuldige, so Adler.
Gar nicht hätte man in den 50er und 60er Jahren mit der
Vergangenheitsbewältigung begonnen. Das ist eine
unzulässige Verkürzung der damaligen Realität, oft
ausgesprochen von Menschen, die sich selber auf die Schulter
klopfen. Da war die so genannte skeptische Generation nach dem
Krieg, die Studentengemeinden, viele andere. In den 60er Jahren
hatte das Buch von Eugen Kogon "Der SS-Staat" schon im ersten
Anlauf 360.000 Käufer und das waren damals wohl auch
überwiegend Leser. Ich selbst hatte das Glück, der
Autonomen Jungenschaft einer Nachkriegsjugendbewegung für
einige Jahre anzugehören, wo man selbstverständlich
auch über die NS-Verbrechen informierte und sprach. Als
15-Jährige sahen wir dort erstmals einen Film über
Auschwitz, der dann eigentlich jeden Zweifel ausräumte und
zu mancher Auseinandersetzung mit Verwandten der älteren
Generation führte. Unter ihnen waren Menschen, die
Widerstand geleistet hatte genauso wie frühere
Nationalsozialisten.
Nach einem Gespräch mit meiner Frau Ines und mir nach dem
Zusammenbruch Biafras hat Heinrich Böll im März 1970
von der Obszönität des wieder in den Schoß der
Erde stoßenden Öl-Bohrturms, von dem Genozid an den
Ibos, von westlichem Versagen und der Notwendigkeit, Auschwitz
zum Anlass und nicht zur Bremse von Brüderlichkeit zu
machen. Meine Freunde und ich haben schon als Schüler und
Erstsemester aus Empörung über Verbrechen und Rassismus
gegen den französischen Genozid in Algerien demonstriert und
uns in der Hamburger Bannmeile gemeinsam mit farbigen
Südafrikanern verhaften lassen. Das war 1958 bis 1960
für Algerien und 1963 ff. für Südafrika, lange vor
der Studentenbewegung. Auch als APO-Mitläufer und
SHB-Mitglied möchte ich die antifaschistischen Leistung
dieser nicht überhöhen. An den Unis hingen bald
Palästinenserplakate mit aggressiven Knarren sozusagen
begleitend zu ersten Terrorakten. Bald marschierte man für
Mao, Pol Pot oder Lenin. Deutsche RAF-Entführer
schließlich selektierten die Geiseln in Juden und
Nicht-Juden.
Leitlinie der Gesellschaft für bedrohte Völker, die wir
als Reaktion auf den Genozid in Biafra gründeten, wurde die
von links wie rechts so lange missachtete UN-Konvention zur
Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, 1948 nach
einem Jahrzehnt des Kämpfens durchgesetzt von dem
jüdisch-amerikanischen Anwalt Raphael Lemkin. Aber was
wäre die Gesellschaft für bedrohte Völker ohne die
Unterstützung jüdischer Persönlichkeiten, der
Beiratsmitglieder Ernst Bloch, Robert Jungk oder Ernst Tugendhat,
ohne die Fürsprache des großen
deutsch-französischen Mittlers Alfred Grosser. Kaum
hätte die GfbV den Durchbruch ihrer Sinti-Roma-Arbeit mit
dem internationalen Echo von Tokyo bis New York, die Durchsetzung
ihrer Bürgerrechte, den Gebrauch des Eigennamens, eine erste
Rentenregelung oder die Finanzierung selbstverwalteter
Beratungszentren erreichen können, hätte nicht Europas
erste Parlamentspräsidentin Simone Veil in Bergen Belsen
(1979) zu unserer Kundgebung mit Sinti, Roma, Gypsies und Gitanos
aus vielen Teilen Europas und 2.000 Deutschen gesprochen. Simone
Veil, die als Kind in Bergen Belsen Häftling war und ihre
Mutter dort verlor, beschwor die Gemeinsamkeit von Sinti und
Juden, "weil wir damals getrennt voneinander gestorben sind". Und
Simon Wiesenthal kam zu dem 3. Weltromakongress mit Teilnehmern
aus 28 Staaten und zog die internationalen Medien mit. Wiesenthal
hat uns mehr als 25 Jahre die Treue gehalten, immer wieder
Appelle unterstützt und sich schließlich mehrfach
für unsere fünfjährige Bosnienkampagne
eingesetzt.
Als Bosniens 200.000 Muslime ermordet wurden, schwieg und
versagte Europa. Alles wurde wieder möglich. Es waren nicht
zuletzt jüdische Persönlichkeiten, die zu der
internationalen Bewegung für Bosnien ihre Stimme erhoben.
Die französischen Philosophen Levi, Andre Glucksman, Alain
Finkielkraut, der gemeinsam mit Marek Edelmann zu unserer
Bosniendemonstration zur Gedenkstätte von Buchenwald kam,
unsere Freunde vom American Jewish Congress, Sharon Silber und
viele andere von der Gruppe Jews against Genocide in New York,
Roy Gutman, Pulitzer Preis Träger, der an meiner
Dokumentation über den Genozid an den bosnischen Muslimen
mitarbeitete, dem ersten Buch über dieses Verbrechen
weltweit.
Man hat viel von der 1., 2., 3., 4., Kommunistischen
Internationale gesprochen. Sie haben sich mit dem Blut von
Millionen befleckt und für immer diskreditiert. Aber wenn
ich an eine wirkliche Internationale denke, dann fällt mir
diese Internationale jüdischer Humanisten, Demokraten,
Pazifisten und Menschenrechtler ein, die bei ihrem Engagement
für Menschenrechte, gegen Verfolgung und Vernichtung
universellen Prinzipien folgen.
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 223 - 1/2004).