Bozen, Wien, Göttingen, 8. April 2003
Hassan al Majid, zuletzt Oberkommandierender der irakischen
Südfront, ist gefallen. Der Cousin Saddam Husseins war nicht
nur für die Vernichtung der Stadt Halabja durch Giftgas
(5.000 Tote), sondern nach eigenen Angaben auch für den Mord
an "nicht mehr als 100.000 Menschen" verantwortlich.
Nach seiner mit Giftgas eingeleiteten "Anfal"-Offensive im
März 1991 erklärte er den kurdischen
Unterhändlern, es seien nicht mehr als 100.000 Kurden ums
Leben gekommen. Die kurdische Seite nannte die Zahl von 182.000
Opfern, von ähnlich hohen Zahlen gehen heute kurdische und
internationale Menschenrechtler aus. So hat der britische
Nahost-Kenner Prof. David McDowell in seinem Standardwerk "Modern
History of the Kurds" 1996 eine Zahl von 150.0000 Opfern genannt.
Unter den Ermordeten befanden sich auch Angehörige der
turkmenischen, assyro-chaldäischen und yezidischen
Minderheiten des Nordirak.
Die "Anfal"-Offensive begann im April 1987 mit Giftgasangriffen
gegen die beiden kurdischen Bergdörfer Balisan und Sheikh
Wasan. Diese Angriffe hielten den gesamten Sommer 1987 an.
Insgesamt wurden dabei zwischen 30 und 50 Dörfer
bombardiert. Die Überlebenden, Gesunde wie Verwundete,
wurden später mit den Toten in Lastwagen abtransportiert,
liquidiert und in Massengräbern verscharrt.
Den Giftgasangriffen folgten systematische
Dorfzerstörungen. Allein im Sommer 1987 wurden 703 kurdische
Dörfer entlang den Hauptverkehrswegen dem Erdboden gleich
gemacht. Den Dorfzerstörungen fielen schließlich nach
verschiedenen Schätzungen zwischen 4.000 und 5.000
Dörfer und Weiler zum Opfer. Große Teile der
kurdischen Bergregionen wurden zu verbotenen Zonen erklärt,
jeder Transport von Lebensmitteln oder Medikamenten dorthin wurde
untersagt, jedes in diesen Gebieten angetroffene Lebewesen
– ob Mensch oder Tier – wurde getötet.
Am 16. März 1988 erfolgte der Giftgasangriff auf Halabja
mit Phosphor und Napalm. Ein kurdischer Forscher sammelte die
Namen von mehr als 3.200 getöteten Einwohnern.
Schätzungen nennen 4.000 bis 7.000 Tote. Weitere sieben
Giftgasangriffe folgten vom 22. März bis zum 1. April 1988.
Nach diesen Angriffen durchkämmten irakische Truppen die
Bergregionen und deportierten viele tausend Menschen, die
schließlich liquidiert wurden. Nach dem 25. August 1988
wurden weitere 49 Dörfer mit Senfgas und Sarin angegriffen.
Mitarbeiter der Ärzte für Menschenrechte fanden noch
vier Jahre später hohe Rückstände der verwandten
Giftgase. Mehrere 10.000 Deportierte – überwiegend
Männer zwischen 15 und 60 Jahren – wurden nach
Anweisung von Al Majid deportiert und später
erschossen.
Ungewöhnlich für einen in der Dritten Welt
verübten Genozid: Die Täter um Al-Majid haben jeden
einzelnen Akt des Völkermordes akribisch notiert. Al Majid
ließ die gesamte Giftgasaktionen mit Videokameras filmen.
Darüber hinaus stellten während des Kurdenaufstandes im
März 1991 nach dem Ende des Golfkrieges kurdische
Freiheitskämpfer in den Büros der Baath-Partei, der
Armee und Geheimdienste mehr als 14 Tonnen Dokumente sicher. Die
renommierte amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights
Watch (HRW) hat diese Unterlagen gesichtet, geordnet und
systematisch analysiert. Es waren Papiere des Allgemeinen
Sicherheitsdienstes, des Allgemeinen Militärgeheimdienstes
und der Baath-Partei. Diese Unterlagen ergeben einen
Schlüssel zu Verständnis der Logik und der Realisierung
der "Anfal"-Offensive. Darüber hinaus hat HRW über 350
überlebende Augenzeugen befragt. Die genannten irakischen
Behörden haben alle Informationen über die
festgenommenen Kurden, ihren Weg in den Tod, die Gefängnisse
oder die Zwangsumsiedlungslager archiviert. HRW ist davon
überzeugt, dass in Bagdad ein vollständiges Dossier
über alle vermissten Kurden existiert und die meisten von
ihnen in Massengräbern endeten.
Die EU hat es versäumt, die Aufrüstung des Irak durch
europäische Firmen zu verhindern. Deutsche (86),
französische (16), britische (18), nordamerikanische (18)
italienische (12) und schweizerische (11) Firmen waren Jahre lang
am Aufbau der Giftgasindustrie beteiligt, der zehntausende Kurden
und Iraner zum Opfer fielen. Frankreich war seinerzeit für
den Aufbau der Atomindustrie verantwortlich. Die Regierungen der
Groß- und Mittelmächte haben sich so mitschuldig
gemacht und müssen daher dazu beitragen, die Opfer des
Regimes zu entschädigen. Insbesondere Deutschland und
Frankreich müssen dafür sorgen, dass die
Verantwortlichen der Rüstungsunternehmen zur Rechenschaft
gezogen werden.
Die GfbV-International fordert die UNO auf, die verschiedenen
NGO-Recherchen (u.a. der GfbV) über
Menschenrechtsverletzungen des Regimes in einer umfassenden
Dokumentation zu berücksichtigen.
UN-Menschenrechtsinspektoren sollen im Irak für die
entsprechende Aufarbeitung der Verbrechen des Baath-Regimes
sorgen und die Freilassung aller politischen Gefangenen aus
Lagern und Gefängnissen überprüfen. Des Weiteren
sollen die UN-Inspektoren auch die zahlreichen Hinweise über
Kriegsverbrechen und über die Verwendung von Uranmunition
untersuchen.
Arbeit der Gesellschaft der bedrohte Völker -
Brennpunkt Irak
> 1970 - Protest gegen Lieferung der Panzerrakete Cobra durch
Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) an Bagdad
> 1975 - Briefaktion gegen sowjetische
Waffenlieferungen
> 1980 - Aktion gegen Dornier wegen Lieferung
deutsch-französischer Alphajets
> 1987 - GfbV beschuldigt die Firmen Karl Kolb und Pilot
Plant führender Rolle am Aufbau der Giftgasindustrie und der
Mitverantwortlichkeit für Vernichtung kurdischer und
assyrischer Dörfer seit April 1986. Ein Jahr vor dem
Giftgasangriff auf Halabja erlässt Bonner Landgericht
einstweilige Verfügung gegen GfbV mit Strafandrohung von 2 x
DM 500 000 und ersatzweise 2 x ein halbes Jahr Haft.
> 1988 - GfbV wiederholt Behauptung gegen Kolb und Pilot
Plant und beruft sich auf "Jerusalem Post". Kölner OLG hebt
Verfügung auf. Sechs Tage nach GfbV-Demonstration vor
Firmengebäuden werden die Geschäftsführer
verhaftet. GfbV- Beiratsmitglied Gwynne Roberts dreht Film
über Folgen der Giftgasangriffe.
> 1989 - GfbV-Pressekonferenz mit Giftgasspezialisten aus den
USA, GB und NL anlässlich internationaler
Chemiewaffenkonferenz in Paris.
> 1990 - GfbV-Mitarbeiter Sternberg und Zülch dringen in
Geheimlager der Firma MBB ein und stellen während des
Irak-Embargos vor laufenden Kameras frisch gepackte Pakete mit
Ersatzteilen für Kampfhubschrauber der irakischen Armee
sicher.
> 1990 - GfbV beschuldigt Firma Gildemeister der Lieferung
von Raketentechnik in den Irak.
> 1991 - GfbV-Mitglieder in Jerusalem erleben Scudraketen -
Angriffe und machen mit israelischen Opfern eine Pressekonferenz
in Bonn.
> 1995 - GfbV-Kampagne gegen türkische Angriffe gegen
UN-Schutzzone Nordirak
Flüchtlinge / Gefangene
> 1970 - Pressearbeit über Bombardements von 200 000
kurdischen Flüchtlingen.
> 1975 - Nach der Massenflucht von 300 000 Kurden als Folge
des von Kissinger vermittelten Irak- Iran-Abkommens GfbV-Aktion
"Asyl für 300 führende, besonders gefährdete
kurdische Persönlichkeiten in Deutschland". Es werden 100
aufgenommen.
> 1976 - Nach GfbV-Gutachten erkennt Bayerischer
Verwaltungsgerichthof irakische Kurden als asylberechtigt
an.
> 1980 - DM 380.000 GfbV-Flüchtlingshilfe für
Nordirak
> 1985 - Briefkampagne für assyrische Gefangene im
Irak.
> 1990 - GfbV überführt türkischen "Roten
Halbmond" der Veruntreuung von 1 Million DM deutscher
Flüchtlingshilfe.
> 1991/92 - GfbV-Hilfeaktion für Giftgasflüchtlinge
in der Türkei mit NRW- Landesmitteln.
> 1991 - GfbV-Delegation versorgt 50 000 kurdische
Flüchtlinge auf 2 000 Meter Höhe im Lager
Üzümlü mit Nothilfe für 14 Tage.
> 1991 - Mit dem Wiederaufbau von zwei der 5 000
zerstörten Kurdendörfer initiiert die GfbV
Wiedererrichtung von über 100 Dörfern.
> 1996 - Pressekampagne gegen Verschleppung iraksicher
Oppositioneller aus Arbil.
> 2000 - 2003 - Herausgabe einer Dokumentation über
Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einsatz für
die Rechte der Assyrochaldäer im Nordirak. Memorandum zur
Verfolgungssituation der Yeziden. Engagement für politische
Flüchtlinge unter anderem gegen Falschaussage des Deutschen
Orientinstituts. Auseinandersetzung mit Jürgen W.
Möllemann, Jörg Haider und mit rechtsradikalen in
Sachen Saddam Hussein. Runde Tische mit irakischer
Opposition.