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Dersim

Die Geschichte einer unterdrückten Region in Türkisch-Kurdistan

Max Schmidt

Göttingen, Bozen, 16. Oktober 2008

Die Provinz Dersim/Tunceli ist von Bergen umgeben. Foto: Alisan Önlü. Die Provinz Dersim/Tunceli ist von Bergen umgeben. Foto: Alisan Önlü.

Dersim ist der althergebrachte Name der heutigen Provinz Tunceli in der Türkei. Da der ursprüngliche Name innerhalb der Bevölkerung Tradition und Geschichte widerspiegelt, findet er immer noch Beachtung und wird von den Kurden öfter benutzt als der offizielle Name Tunceli. Dersim war das Kerngebiet verschiedener Ethnien und Religionen, Kurden, Armenier, Aleviten, Sunniten und Christen. Es ist vom anatolischen Hochland, vom Ararathochland, von Obermesopotamien und von den Bergen des Schwarzen Meeres umgeben. Nordwestlich fließt der Euphrat, südlich stellt der Fluss Murat die Provinzgrenze dar.

Der überwiegende Teil Dersims ist von Gebirgszügen durchzogen. Der Berg Munzur (Koê Muziri) hat eine besondere Bedeutung, weil er in schwierigen Zeiten für die Einwohner Dersims als Schutz- und Zufluchtsort galt. Im Osten liegen die Nachbarprovinzen Bingöl und Elazig, Erzincan im Südwesten. Die Landkreise von Dersim sind Pülümür, Pertek, Ovacik, Hozat, Nazimiye, Cemisgezek und Mazgirt. Neben den zaza- und kurmancisprechenden Kurden, lebten einst auch Armenier in Dersim. Die Bevölkerungszahl dieser Region ist seit der Gründung der Republik Türkei aufgrund von Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung kontinuierlich gesunken. Die Armenier verschwanden hier infolge des Genozides während des ersten Weltkrieges. In der Zeit von 1999 bis 2005 ist die Einwohnerzahl von 93.548 auf 79.176 zurückgegangen und hat sich seit 1975 mehr als halbiert. Dersim ist neben einigen anderen Regionen im Südosten der Türkei einer der Orte mit dem höchsten Bevölkerungsverlust. So wurden in den letzten fünfzehn Jahren aufgrund militärischer Einsätze viele Dörfer zerstört, Wälder in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet.

Der Fluss Munzur wird von zahlreichen Zuläufen gespeist - bald soll er gestaut werden. Foto: Alisan Önlü. Der Fluss Munzur wird von zahlreichen Zuläufen gespeist - bald soll er gestaut werden. Foto: Alisan Önlü.

Etwa im gleichen Zeitraum (1975 bis 2007) wuchs die Bevölkerung der Türkei von 40 Millionen auf 70 Millionen, das entspricht einem mittleren jährlichen Wachstum von etwa 1,8 Prozent. Diese Wachstumsrate würde in der Provinz Dersim einer hypothetischen Einwohnerzahl von etwa 283.000 im Jahr 2007 entsprechen. Im Jahre 2007 hatte Dersim jedoch nur 84.000 Einwohner. Dersim war den Machthabern, gleich ob osmanischer oder jungtürkischer Couleur, stets ein Dorn im Auge. Von hier aus wurden Stimmen gegen alle Formen der Unterdrückung laut, da sich Dersim nicht dem Joch von Tyrannen unterwerfen wollte. Bereits das osmanische Reich versuchte in Dersim vergeblich das islamische Recht, die Scharia, einzuführen. Auch die junge türkische Republik unter Mustafa Kemal Atatürk sah in Dersim aufgrund seines Status und seines Ungehorsams eine Gefahr. Atatürk bemerkte hierzu: "Die Dersim-Frage ist eine der wichtigsten Fragen in unseren inneren Angelegenheiten.

Es ist notwendig, die Regierung mit umfassender und uneingeschränkter Autorität auszustatten, damit diese die innere Wunde, dieses abstoßende Krebsgeschwür um jeden Preis beseitigen und auslöschen kann." [zitiert nach G. Deschner, Die Kurden, Erlangen, 1990, S. 97 und Dr. M. N. Dersimi, Kürdistan Tarihinde Dersim, Dersim in der Geschichte Kurdistans, Köln, 1988, S.259] Um dieses "abstoßende Krebsgeschwür" auslöschen zu können, wurde das unbewaffnete Volk in den Jahren 1937/38 fast vollständig ausgerottet. Die Anführer der Freiheitsbewegung von Dersim Said Riza, Alishêr und seine Frau Zarife, wurden gehängt und an unbekannter Stelle begraben. So wurde Dersim Ende der 1930er Jahre erstmals in seiner Geschichte vollkommen erobert. Dieses Trauma ist in den Köpfen der Menschen aus Dersim noch nicht verarbeitet worden.

Über 70.000 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Ältere wurden massakriert. Viele Überlebende wurden nach Westanatolien zwangsumgesiedelt. Da die türkische Regierung bis heute die Begräbnisorte von Said Riza, Alishêr und seiner Frau Zarife sowie den anderen Anführern der Freiheitsbewegung von Dersim nicht preisgibt, formiert sich nun eine Bewegung unter Motto "Zeigt uns die Begräbnisstellen unserer Führer!". Diese Bewegung ist ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung von Dersim langsam den Mut fasst, ihre Geschichte und die Tragödie von 1938 aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Bis dato konnten die Kurden auch in Syrien, im Irak und Iran nur über mündliche Überlieferungen und Lieder vom Leid und Schmerz der Menschen in Dersim erfahren. Weder die türkische Regierung noch die Medien, die Justiz, die staatlichen Einrichtungen, wie z.B. das "Amt für türkische Geschichte" (Türk Tarih Kurumu) oder die türkische Gesellschaft fühlten sich verpflichtet sich mit diese und anderen historischen Tragödien auseinanderzusetzen.

Die Aufarbeitung der türkischen Gräuel ist bis heute schwierig. Während viele Menschen die Massenmorde an den verschiedenen Ethnien als ungesühntes Unrecht empfinden und seit Jahrzehnten eine angemessene Erinnerung fordern, bestreitet die türkische Administration bis heute, dass es überhaupt Massentötungen gegeben habe. Und wenn doch, dann müssten sie als gerechtfertigte Reaktionen und unvermeidliche Geschehnisse im Rahmen des Krieges bewertet werden. Ein Staat, der nicht aus der Geschichte für die Zukunft lernt, ist stets gehemmt und verkrampft . Die Türkei ist im Umgang mit ihrer Geschichte versteift und unsicher. Dabei könnte eine Versöhnung mit den Ethnien, die betroff en sind, einen Prozess der Befriedung und des konstruktiven Austausches herbeiführen. Die Bundesrepublik und viele europäische Staaten könnten hier als Beispiel dienen. Die Geschichte verstehen, um die Zukunft zu verbessern, so müsste das Motto lauten.

Doch manchmal wiederholt sich Geschichte bedauerlicherweise doch. So hat das türkische Militär unter dem Vorwand des Kampfes gegen Guerillas der kurdischen Arbeiterpartei PKK einen erneuten Vernichtungsprozess initiiert: 210 Dörfer und 15.767 Häuser wurden vom Militär von Anfang der 80er Jahre bis 1995 geräumt (Cumhuriyet vom 9./10.03.1997). Die Wälder wurden gerodet und abgebrannt, willkürliche Verhaftungen, Folter und Mord systematisch durchgeführt. 20.000 bis 30.000 Menschen flohen ohne Hab und Gut in den Westen und führen dort zum Teil bis heute ein kümmerliches Leben.

Die derzeitige Bürgermeisterin Dersims, Songül Erol Abdil, von der pro-kurdischen DTP (Demokratik Toplum Partisi, deutsch: Partei der demokratischen Gesellschaft ) versucht sowohl in den Bereichen der Wirtschaft, der Bildung, des Gesundheitswesens als auch im sozialen Bereich diverse Projekte zu etablieren, mit denen sie der Landflucht, Arbeitslosigkeit und Armut entgegensteuern will. Frau Abdil ist in der Geschichte der Türkei die erste weibliche Bürgermeisterin einer Stadt. Sie leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für mehr Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter. Auch im Exil versuchen Vertriebene aus Dersim, in Istanbul, Izmir aber auch im fernen Deutschland, die Kultur und die Sprache ihres Heimatlandes vor dem Untergang zu bewahren. Es gibt zahlreiche Kultur- und Sportvereine, die sich bundesweit und europaweit zusammenschließen, beispielsweise in der "Föderation der Dersim-Gemeinden in Europa (FDG), die aus 16 Vereinen (14 davon in Deutschland) besteht.

In der Diaspora wird auch darüber diskutiert, ob das Zaza, die meistgesprochene Sprache in Dersim, zum Kurdischen gehört oder auch nicht. Hierbei ist anzumerken, dass die türkische Regierung seit Anfang der 90er Jahre aktiv die These vertritt, dass Zaza nicht dem Kurdischen angehört. Linguistische und wissenschaftliche Gründe spielen dabei kaum eine Rolle. Der türkische Staat versucht lediglich, die Nationalbewegung der Kurden (Zaza-und Kurmancisprecher) zu spalten. Derartige Versuche hat es auch im Irak hinsichtlich von Kurmanci und Sorani gegeben.

Die kurdischen Sprachen und Dialekte sind jedoch eine sehr komplexe Materie. Die Diskussion über die Zugehörigkeit von Zaza hat aber viel mehr mit Politik und Religion zu tun, als mit der Wissenschaft. Die GfbV tritt dafür ein, dass alle Sprachen und Dialekte, auch das Zaza, in der Türkei genauso wie das Türkische im Schulsystem und öffentlichen Leben gleichberechtigt behandelt werden. Ob die Menschen in Dersim Kurden sind oder nicht, sollte man sie lieber selbst beantworten lassen.

Vor einigen Jahren bildete sich in Dersim eine neue Bewegung gegen das Vorhaben der türkischen Regierung, den nordnordwestlich von Tunceli fließenden Munzur zu stauen. Der Munzur besitzt eine Gesamtlänge von 144 km und hat etlichen Wasserquellen. Im Munzur-Tal plant die Türkei den Bau von mehreren Staudämmen. Bei der Planung und Realisierung des Munzur-Staudamms werden die betroffenen Menschen nicht ausreichend miteinbezogen. Die Staudammprojekte werden keine nachhaltige Entwicklung der Region einzuleiten, sondern die Konflikte in dieser Region verschärfen und tausende von Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen. Daher hat die GfbV in Kooperation mit der Föderation der Dersim- Gemeinden in Europa (FDG) eine Unterschriften- Kampagne gestartet. Der Raubbau an Natur und Mensch in Dersim muss aufhören. Im Rahmen der Aktionen für die Rettung von Munzur wird in Dersim einmal im Jahr ein Festival organisiert. Zum diesjährigen Munzur-Festival reiste der Leiter des GfbV-Büros in Berlin, Christian Zimmermann, in die Türkei. Im Folgenden veröffentlichen wir seine täglichen Berichte aus Dersim.

Aus pogrom-bedrohte Völker 249-250 (4-5/2008)