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Jüdische Stimmen gegen Vertreibungen

Die Internationale der Humanität

Bozen, 15. Dezember 2004

Index

>> Wolfgang Mayr: Die Internationale der Humanität |
>> Norman M. Naimark: Flammender Hass |
>> Ekkehard Maass rezensierte Norman M. Naimark: Flammender Hass |
>> Karl Schögel: Vertreibung: Wohin Intoleranz führen kann |
>> Ralph Giordano: Zentrum gegen Vertreibungen. Nur ein Hort von Revanchisten, Deutschvölkischen und Holocaust-Relativierern? |
>> Julius H. Schoeps zum Thema Vertreibung und dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen |
>> Julius H. Schoeps: Zentrum gegen Vertreibungen. Angst vor dem Tabubruch |

Jüdische Stimmen gegen Vertreibungen

Die Internationale der Humanität .: oben :.

Von Wolfgang Mayr

Jüdische Intellektuelle protestierten immer wieder gegen ethnische Säuberungen und gegen Völkermord. Der amerikanische Anwalt Raphael Lemkin (polnisch-jüdischer Abstammung) warb schon in den 30er Jahren für eine Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Seine Warnungen vor den Nazis wurden im westlichen Europa und in den USA nie besonders ernst genommen. Erst nach der Shoah und dem rassistischen Eroberungskrieg Nazi-Deutschlands im östlichen Europa und in der Folge der Vertreibungen der Deutschen und anderer Nationalitäten wurde 1948 die UN-Genozid-Konvention angenommen.

Der linkssozialistische Labor-Abgeordnete Victor Gollancz, auch er polnisch-jüdischer Abstammung wie Lemkin, dokumentierte in den frühen 30er Jahren in seinem "Braunbuch" die beginnende "Endlösung". Frühzeitig versuchte er darauf aufmerksam zu machen, dass Nazi-Deutschland die Vernichtung der jüdischen Europäer anstrebt. Er wurde überhört, nicht zur Kenntnis genommen. Konsequent verurteilte er aber auch 1945, als das ganze Ausmaß des Holocaust bekannt wurde, die Vertreibung der Ostdeutschen. Es ist nicht Zufall, dass die GfbV ihren Menschenrechtspreis Victor Gollancz (www.gfbv.de/gfbv_deutschland_preis.php) widmet.

Der zu unrecht vergessene deutsch-böhmische Dichter H.G. Adler, Verfasser des Standardwerke über das KZ Theresienstadt, geißelte die nationalistisch motivierte Hatz tschechischer Garden gegen Sudetendeutsche. Leopold Grünwald, aktiv in der sudetendeutschen KP, lehnte, wie Robert Jung auch, die Vertreibungen als kollektive Bestrafung ab.

Der russische Jude Eugene M. Kulischer, "der erst vor Lenin, dann vor Hitler flüchtete - urteilte 1946: Die größte organisierte Völkerverschiebung der Weltgeschichte, die sechseinhalb Millionen Deutsche umfasst, ist in vollem Schwung. Weitere Massendeportationen sind in Vorbereitung. ... Es steckt der Glaube dahinter, dass politische und ethnische Grenzen zusammenfallen sollten. Wo man dies aufgrund des gemischten Zusammenlebens der Bevölkerung verschiedener Zugehörigkeit nicht erreichen kann, setzt man auf Pläne, Hunderttausende von Menschen von einem zum anderen Land zu verschieben" (aus: Promenade in Jalta, von Karl Schlögel; Hanser).

In der Folge des Zweiten Weltkriegs wurde das östliche Europa - nach dem Völkermord der Nazis an den Juden und dem Tod von mehreren Zig-Millionen slawischen Europäern - grundlegend ethnisch gesäubert: Polen, Ukrainer, Ungarn, Deutsche und viele weitere Bevölkerungsgruppen wurde "aus"- und "umgesiedelt", vertrieben. Die Vertreibungen sind wieder aktuell geworden im Europa ohne "Eisernen Vorhang" - Kroatien, Bosnien, Kosovo und in Tschetschenien, Aserbeidschan, Armenien. Eines der Anliegen der GfbV, Vertreibungen zu verhindern. Ein Anliegen auch vieler jüdischer Persönlichkeiten, die die ethnischen Säuberungen in Bosnien brandmarkten. Die französischen Philosophen Bernard Levi, Andre Glucksman, Alain Finkelkraut erhoben ihre Stimmen. Marek Edelmann, einer der Köpfe des Aufstandes im Warschauer Ghetto, unterstützte die GfbV-Kampagne gegen die ethnischen Säuberungen in Bosnien. Als strikter Gegner eines Zentrums gegen Vertreibungen des Bundes der Vertriebenen ortete sich Marek Edelmann. Gemeinsam mit vielen anderen europäischen Intellektuellen wendet er sich gegen das Projekt. Das Zentrum erhebt Deutsche zu "Opfer", für Edelmann, ein Überlebender der Shoah, waren die Deutschen "Täter". Norman M. Naimark ist Professor an der Standfort University in den USA. Der Europa-Experte greift in seinem neuen Buch "Flammender Hass - ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert" fünf Fälle auf - die Armenier und anatolischen Griechen, die Judenverfolgung im Dritten Reich, die sowjetische Deportation der Tschetschenen-Inguschen und Krimtataren, die Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Sein Fazit: Die Vertreiber wollten ethnisch homogene Zonen schaffen.

Norman M. Naimark: Flammender Hass

Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert .: oben :.

Von allen Grausamkeiten und Katastrophen des letzten Jahrhunderts zählen ethnische Säuberungen zu den furchtbarsten Geschehnissen. Norman Naimark hat in einer vergleichenden Analyse den Völkermord an den Armeniern, den Holocaust, die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Stalins Deportation der Tschetschenen-Inguschen und Krim-Tataren sowie die Kriege auf dem Balkan in den 1990er-Jahren untersucht. "Ethnische Säuberung wie im früheren Jugoslawien ist ein eminent modernes Phänomen" und nicht, wie es oftmals von Politikern und Journalisten behauptet wird, ein Resultat "uralten Hasses".

Seit den Anfängen der dokumentierten Geschichte haben dominierende Völker weniger mächtige und Gruppen, die sie als untergeordnet und fremd ansahen, angegriffen und von ihrem Territorium verjagt. Laut Naimark sind die episodischen Pogrome im Rußland des späten 19. Jahrhunderts eine ganz andere Art von Angriff als Stalins angebliche Pläne von 1952/53, die russischen Juden nach Sibirien zu deportieren. Diese Pläne, die wegen geschlossener russischer Archive noch immer kaum erforscht sind, hätten zu einer zweiten Shoah führen können.

Einer dieser Unterschiede war die wachsende Popularität des modernen, völkischen Nationalismus in Europa und der westlichen Welt um 1900. Diese postpositivistische und postdarwinistische neue Extremform des Nationalismus stand für eine essentialistische Vorstellung der Völker, die den "Anderen" ausschloß und die Assimilation verbot. "Rassen" wurden nicht nur als in sich geschlossen vorgestellt, sondern der Eintritt anderer in den "Volkskörper" wurde als Schwächung der "natürlichen Kraft des Volkes" angesehen.

Der Nationalismus eines Roman Dmowski in Polen, eines Francis Galton in England oder eines Ernst Haeckel in Deutschland war im späten 19. Jahrhundert dagegen etwas völlig anderes. Er gab sich demonstrativ "wissenschaftlich", maß Schädelgrößen, Körperformen und die Größe des Gehirns, um die Rasse zu bestimmen und ihre angeblichen Defekte zu diagnostizieren. Die starken und entschlossensten Völker - die tüchtigsten - würden erfolgreich sein, während schwächere Völker genau wie schwächere Spezies untergehen würden.

Als solche Ideen des integralen Nationalismus sich um 1900 mit der gewaltsamen Unterdrückung eingeborener Völker und ihrer Ziele durch den Imperialismus vermischten, wuchs das Potential des Völkermords unter den dominierenden Nationen exponential an. Der Massenmord auf der Grundlage der "Rasse" war zu Beginn des neuen Jahrhunderts bereits Teil der europäischen Kolonialgeschichte; der Nationalismus wurde zur Lunte, die eine Explosion des Völkermords in Gang setzen sollte.

Der moderne völkische Nationalismus war für die ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Der moderne Staat war ein entscheidender Faktor dieses Vorgangs, da er sich nach ethnischen Kriterien organisierte - besonders seit den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg. Laut Zygmunt Bauman war diese Vermählung von modernem Nationalismus und Staat nach dem Ersten Weltkrieg besonders für die Juden gefährlich: der Rassismus als Weltanschauung und, wichtiger noch, wirkungsvolles Instrument politischer Praxis [ist] untrennbar mit dem Aufkommen moderner Wissenschaft und Technologie verknüpft.

In dieser Hinsicht ist der Rassismus ein genuin modernes Produkt. Erst die Moderne ermöglichte den Rassismus und schuf den Bedarf dafür. In einem Zeitalter, das individuelle Leistung zum einzigen Maßstab menschlichen HandeIns erhob, entstand das Bedürfnis nach einer Theorie, die Grenzziehung und Grenzerhaltung auch unter diesen veränderten Bedingungen ermöglichte, in denen der soziale Grenzübertritt leichter war als jemals zuvor. Prägnanter formuliert: Rassismus ist eine gänzlich moderne Waffe im Dienste eines vormodernen oder zumindest nicht ausschließlich modernen Kampfes. In diesem Schema sind religiöse Unterschiede nicht der entscheidende Aspekt bei ethnischen Säuberungen, wie so oft in früheren Jahrhunderten. Sogar in Bosnien und im Kosovo dient die Religion als Kennzeichen ethnischer Identität, nicht primär als Zeichen des Glaubens.

Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert ist das Produkt der "fortgeschrittensten" Phase in der Entwicklung des modernen Staats. Dies ist die Epoche dessen, was James Scott "Hochmoderne" nennt: eine Staatsideologie, welche die Gesellschaft in einen geregelten und "gesunden" Organismus zu transformieren sucht, der das Bedürfnis der Staatsführung nach Ordnung, Transparenz und Gehorsam widerspiegelt. Der moderne Staat führt Volkszählungen durch, organisiert Katasterpläne, zählt, misst, wiegt, teilt ein und vereinheitlicht. Er verdinglicht geographische Grenzen und setzt Bebauungsvorschriften durch. Er unterwirft seine Bevölkerung auch der Überwachung und Manipulation. Er greift ins Familienleben ein und führt Maßnahmen zur Bevölkerungspolitik durch. Die Medien lehren die Werte der herrschenden Elite des Staats. Der Hochmoderne liegt wenig an Minderheitenrechten, Sprachunterschieden, asymmetrischer Entwicklung und primitiver Landwirtschaft oder Handwerk.

Wie Bauman betont, besteht sie aber auf der Identifikation ethnischer Gruppen und der Sichtbarmachung von Differenz und Andersartigkeit, um diese auszuschließen. Natürlich begannen der Staat und seine Bürokratie damit lange vor Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Staats reichen sicherlich bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts und noch weiter zurück, zur wissenschaftlichen Revolution und dem Zeitalter der Entdeckungen. Angeregt durch die Mobilisierung der Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, hat der Staat des 20. Jahrhunderts jedoch die Kontrolle und Ordnung seiner Bevölkerung auf ein bis dahin unvorstellbares Maß gesteigert. Die Unfähigkeit des modernen souveränen Staates, große Minderheiten innerhalb seiner Grenzen zu tolerieren, führt manchmal zu Assimilationsprogrammen und manchmal zu ethnischen Säuberungen - je nach politischen Umständen und historischem Kontext.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.08.2004
Die Studie von Norman M. Naimark über ethnische Vertreibungen im 20. Jahrhundert wiederhole nur auf den ersten Blick schon oft Gesagtes und Geschriebenes, meint Michael Salewski. Tatsächlich werde in der Gesamtschau deutlich, dass Vertreibungen ein "weitverbreitetes Phänomen der 'Hochmoderne'" sind. "Das kühle Leidenschaft atmende Buch" zeige sogar, dass und wie die Völkermorde, Vertreibungen und Deportationen des 20. Jahrhunderts auf "unheimliche Weise" miteinander verbunden waren und somit zum "Grundsubstrat der Geschichte" wurden. Als Beispiel nennt der Rezensent die Ansicht von Radovan Karadizic, der den Krieg in Bosnien als "die Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges" verstand. Lobend hebt Michael Salewski die Betrachtungen des Autors zur Versöhnung der Völker hervor, der die Versöhnung nicht nur als "sittliche Pflicht" sondern mehr noch als "politische Notwendigkeit" versteht.

Die Tageszeitung vom 14.08.2004
Als "großartiges Buch" würdigt Rezensent Micha Brumlik diese Studie von Norman Naimark, die die Geschichte der ethnischen Vertreibungen in Europa schildert. Er sieht in ihr eine mögliche Basis für ein nicht mehr nationalstaatlich begrenztes Gedenken an die politisch motivierten Verbrechen Vertreibung und Genozid. Naimark verstehe den 1915 von der jungtürkischen Führung des Osmanischen Reiches an den Armeniern begangenen Genozid als Blaupause, die in den nächsten achtzig Jahren sämtlichen in Europa begangenen Genoziden und Vertreibungsverbrechen zu Grunde gelegen habe. Auch die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch die Deutschen sei hier von Interesse, da sich die Nationalsozialisten zunächst mit der Vertreibung der Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zufrieden gegeben hatten. Für naheliegend hält Brumlik, dass Naimark die stalinistische Deportationspolitik gegenüber Tschetschenen, Inguschen und Krimtataren hier integriert. Überzeugend findet er dessen Verständnis von "ethnische Säuberungen" als genuinen Ausdruck einer Moderne, die vom Gedanken des ethnisch homogenen Nationalstaats ebenso geprägt sei wie von einer ungeheueren Kumulation technischer Mittel. Schließlich hebt er hervor, dass der Autor auch deutlich macht, wie sehr staatliche Verbrechen sich aufs biologische Geschlecht beziehen.

Süddeutsche Zeitung vom 10.05.2004
Ulrich Teuschs Urteil über das Buch des amerikanischen Autors Norman M. Naimark über "ethnische Säuberungen" ist zwiespältig. Zunächst lobt er die "sorgfältig recherchierten Fallstudien" und ihre "Bandbreite" als imposant. Der Autor könne zunächst überzeugend darstellen, dass die Völkermorde seit dem 20. Jahrhundert nicht etwa als Rückfälle in ein überwunden geglaubtes "archaisches" Verhalten zu werten sei, sondern als "modernes Phänomen" begriffen werden müsse, so der Rezensent zustimmend. Allerdings bleibt Teusch vieles in dem Buch zu "allgemein", und er beklagt die geringe "Erklärungskraft" der Ausführungen. Insbesondere ist dem Rezensenten nicht deutlich geworden, warum "ethnische Säuberungen" relativ selten vorkommen, wenn doch die Bedingungen für "ethnische Säuberungen, die Naimark als Auslöser ausgemacht hat, relativ häufig vorliegen. Außerdem gibt Teusch noch zu bedenken, dass die meisten Völkermorde eben nicht in modernen Staaten, sondern in der sogenannten Dritten Welt vorkommen. Die Vorstellung des Autors, nur mit verstärkter "militärischer Intervention" seien "ethnischen Säuberungen" abzuwenden, kommt dem Rezensenten seltsam vor, denn damit, meint er, widerspricht Naimark doch seiner eigenen These, ethnische Säuberungen gingen in der Regel von einem modernen organisierten Staat aus, anstatt von diesem verhindert zu werden.

Ekkehard Maass rezensierte Norman M. Naimark: Flammender Hass

Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert .: oben :.

Von Ekkehard Maass

Ein Querschnittsthema wartet in den nächsten 45 Minuten auf Sie, lokal im weitesten Sinne begrenzt auf Ost-, Ostmittel- und Südost-Europa. Vor allem aber um Historisches wird es gehen, um Zeit- und um Kulturgeschichte. Zwei Neuerscheinungen sind dabei, die sich mit den Begriffen "Ethnische Säuberungen" und "Völkermord" beschäftigen. Wie staatlich beförderter Rassismus das Leben einer jungen Deutschen während des Zweiten Weltkriegs, ja sogar noch danach aus zuvor friedlichen Bahnen geworfen hat, das erfahren Sie aus unserer dritten Neuvorstellung.

Ein dickleibiger Band zum immer noch nicht endgültig erforschten Themenkomplex "Der GULag in der untergegangenen Sowjetunion" soll anschließend kurz vorgestellt werden - und enden wollen wir heute mit der Besprechung zweier Essays aus den Federn je eines ukrainischen sowie polnischen Schriftstellers zu dem ganz und gar nicht sich nur mit der Geographie begnügenden Begriff: "Mitteleuropa". Wer weiß, ob in der Geschichtswissenschaft nicht eines Tages das Jahr 1992 als ein Schlüsseldatum festgeschrieben werden wird? Exakt zu diesem Zeitpunkt nämlich tauchte der Begriff der "Ethnischen Säuberung" zum ersten Mal auf, um die serbischen Angriffe auf die muslimische Bevölkerung in Bosnien-Herzegovina zu beschreiben. Dies zumindest beobachtete Norman M. Naimark, Historiker an der Stanford University in den USA. Ethnische Säuberungen gab es allerdings auch schon vorher und in anderen Ländern. Allerdings: Es scheint sich dabei um ein typisches Phänomen aus dem vergangenen, dem 20. Jahrhundert, zu handeln.

Naimark hat jetzt beim Münchner Beck-Verlag eine Art Sammelband vorgelegt mit dem Titel: "Flammender Hass - Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert." Ekkehard Maass, gelernter DDR-Bürger und seit langem ausgewiesener Kaukasus-Experte fiel nach der Lektüre dieses Buches umgehend ein Gedicht von Wolf Biermann ein, das er seiner Rezension vorangestellt hat:

Die DDR, mein Vaterland
Ist sauber immerhin
Die Wiederkehr der Nazizeit
Ist absolut nicht drin

So gründlich haben wir geschrubbt
Mit Stalins hartem Besen
Dass rot verschrammt der Hintern ist
Der vorher braun gewesen

Der Hinweis auf Stalins harten Besen in den Einleitungsstrophen von Wolf Biermanns Poem "Deutschland ein Wintermärchen" bezieht sich auf die politischen Säuberungen unter Stalin, dem 1934 auf dem XVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion symbolisch ein eiserner Besen überreicht worden war. Stalin wendete als erster den technischen Begriff "Säuberung" auf lebende Menschen an. Im Zusammenhang mit der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft "reinigte" er - zeitgenössisch formuliert - von 1929 bis 1930 die sowjetische Gesellschaft zunächst von allen tüchtigen Landwirten: Zwei Millionen wurden deportiert, zweieinhalb Millionen umgesiedelt, mehr als eine halbe Million Menschen kam um. Nach der Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow 1934 nahmen die Säuberungen von Partei und Gesellschaft gigantische Ausmaße an. Bis zu 50 Millionen Menschen wurden - unterschiedlichen Schätzungen zufolge - in den GULag geschickt oder liquidiert.

Der Begriff "ethnische Säuberung" entstammt der Propagandasprache im zerfallenden Jugoslawien Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und bezeichnet die gewaltsame Vertreibung einer ethnischen Gruppe. Ziel ist dabei die Schaffung eines ethnisch oder so genannten "völkisch-rassisch" homogenen Staatswesens. Heinrich Himmler, Chef der SS mit dem Rang eines "Reichsführers", nannte die von ihm betriebene Vernichtung der Juden oder der Sinti und Roma eine - Zitat: -"völkische Flurbereinigung"; dieser Sprachgebrauch impliziert die Vernichtung von "Unkraut" oder "Ungeziefer". Der Begriff "ethnische Säuberung" wurde zum Unwort des Jahres 1992 gewählt. Er kommt nicht aus der Wissenschaft, ist kein Rechtsbegriff. Inzwischen gelten "ethnische Säuberungen" in der zivilierten Welt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Norman M. Naimark untersucht in seinem Buch "Flammender Hass", wie weit ethnische Säuberungen das 20. Jahrhundert prägten und erklärt die Notwendigkeit dieses neuen Begriffs:

Man benötigte einen neuen Begriff, weil ethnische Säuberung und Völkermord zwei verschiedene Handlungen bezeichnen und die Unterschiede zwischen ihnen wichtig sind. Genau wie bei der juristischen Bestimmung von Mord ist auch hier der Vorsatz das entscheidende Kriterium. Völkermord ist die vorsätzliche Tötung eines Teils oder einer ganzen ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe; sein Ziel ist die Ermordung eines Volkes. Die Absicht der ethnischen Säuberung liegt in der Entfernung eines Volks und oft auch aller seiner Spuren von einem bestimmten Territorium. Am Ende des Spektrums berührt sich die ethnische Säuberung mit der Deportation oder dem so genannten "Bevölkerungsaustausch". Hier geht es darum, Menschen zur Umsiedlung zu bringen, und zwar mit legalen oder halblegalen Mitteln. Am anderen Ende unterscheiden sich ethnische Säuberung und Völkermord nur durch das Endziel. Hier geht die ethnische Säuberung in den Völkermord über, da Massenmord begangen wird, um das Land von einem Volk zu "säubern".

In der Tat waren alle im Buch von Norman Naimark beschriebenen ethnischen Säuberungen von Massenmorden und entsetzlichen Gräueltaten begleitet. Während des Ersten Weltkriegs wurden etwa anderthalb Millionen Armenier auf Todesmärschen in den Tod getrieben. Auch wenn die türkische Geschichtsschreibung sich bis heute gegen diese Zahl wehrt, ist sie glaubhafter als die türkischen Niedrigziffern, die versuchen, den Völkermord an den Armeniern herunterzuspielen. Norman Naimark analysiert ausführlich die historischen und politischen Gründe für die Vertreibungen, die begleitet waren von allen nur vorstellbaren Kapitalverbrechen: Raub, Mord, Folter, Vergewaltigung, Brandstiftung.

Der genaue Ablauf der Deportation unterschied sich von Region zu Region, doch das allgemeine Muster legt einen zentral gesteuerten Plan nahe. Zunächst kam die Kampagne zur Entwaffnung der Bevölkerung, dann die Inhaftierung der führenden Bürger - Geistliche, Geschäftsleute und Ärzte. Wenige entkamen der Gewalt; zahlreiche Männer wurden in Gefängnissen geschlagen und gefoltert. Beobachter erwähnen das "Beschlagen" von Opfern mit Hufeisen. Nach Wochen der Folter und Verfolgung wurden die verzweifelten, hungrigen und erschöpften Gefangenen aneinandergefesselt, manchmal zu zweit, manchmal zu viert oder fünft und ins Exil getrieben. Selten kamen sie weit, bevor sie erschossen oder erschlagen wurden.

Nicht weniger grausam verlief die Vertreibung von Millionen Deutscher aus Polen und Tschechien. Die Planung der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten wurde abschließend auf der Potsdamer Konferenz 1945 durch die Siegermächte sanktioniert. Auch wenn diese Vertreibung nicht zuletzt als Reaktion und im Zusammenhang mit den ihrerseits unerhörten Gräueltaten der Deutschen zu sehen ist, entwürdigen die sie begleitenden Verbrechen dennoch all jene demokratischen Regierungen, die sie billigten:

Wie so oft bei ethnischen Säuberungen wurden die Frauen im allgemeinen von den Männern getrennt und auf brutale und obszöne Art beschimpft und sexuell missbraucht. Sie wurden ständig als "Schweine" und "Nazihuren" beschimpft und manchmal zur bloßen Unterhaltung der Wachen ausgezogen und geschlagen.

Es ist ein großes Verdienst von Norman Naimark, als US-Bürger das für die Beziehungen zwischen Deutschland, Tschechien und Polen heikle Thema der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sachlich und präzise behandelt zu haben. Viele Ereignisse und Zahlen werden in diesem Buch erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt. Übrigens: Die von den Deutschen verübten Vertreibungen von Ukrainern, Polen und Russen sind 1946 während der Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Kriegsverbrecher offenbar deswegen nicht thematisiert worden, weil zeitgleich gerade die Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Grausam und - so der Buchtitel - von "flammendem Hass" gekennzeichnet waren die ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien vor gut einem Jahrzehnt. Die Schilderungen des Autors auch zu diesem Komplex überzeugen durch kluge Analysen der politischen Hintergründe und Fakten.

Die Deportationen der Inguschen und Tschetschenen sowie wenig später der Krimtataren 1944 unter Stalin nehmen bei Naimark eine besondere Position ein. Diese Deportationen, ebenso wie die der Wolgadeutschen, der Karatschaier, der Balkaren aus dem Kaukasus-Vorland, und fünfzehn weiterer ethnischer Gruppen, verliefen dagegen ohne das Attribut "flammender Hass". Sie passierten ebenso fast lautlos wie Stalins Säuberungen in den Jahren zuvor. Sie waren nicht einmal begleitet von sadistischen Ausschreitungen. Die Deportation als solche war das Verbrechen, bei dem prozentual nicht weniger Menschen umkamen, als bei der Vertreibung der Deutschen ein paar Monate später oder bei den ethnischen Säuberungen im zerfallenden Nach-Tito-Jugoslawien. Nach tschetschenischer Darstellung kam weit über die Hälfte ihres Volkes bei der Deportation um - also rund 250.000 Menschen. Nicht erwähnt wird als wichtiger Grund für die Vertreibungen, dass Stalin die reichen Dörfer auf der Krim und im Kaukasus für Invaliden, Rentner und Waisenkinder brauchte, die er in den Metropolen nicht mehr ernähren konnte.

Der russisch-tschetschenische Konflikt dauert bekanntlich an und bestätigt einmal mehr die Ansicht des Autors Norman Naimark, dass ethnische Säuberungen Ausdruck der Moderne sind. Und: Sie werden mit Hilfe von Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik ausgeführt. Russische Generäle sprechen unverhüllt davon, die Tschetschenen vernichten zu wollen, wie etwa der General Schamanov 1999, zu Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs: Dieser Krieg - so der hohe russische Militär - sei die Wiedergeburt der russischen Armee und der russischen Nation. Dieser Krieg werde das tschetschenische Problem endgültig lösen. Nach diesem Krieg - so Schamanov - werde es die Tschetschenen nicht mehr geben. - Und so wartet Norman Naimarks Frage dringend auf eine Antwort:

Hat die internationale Gemeinschaft den Willen, rasch und entschlossen zu handeln? Wenn nicht, werden sich die in diesem Buch geschilderten Schrecken mit Sicherheit wiederholen.

Ekkehard Maass ist Mitarbeiter der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft (www.d-k-g.de).

Vertreibung: Wohin Intoleranz führen kann

Flucht und Vertreibung: Norman Naimarks Studien über ein düsteres Kapitel der europäischen Geschichte .: oben :.

Von Karl Schögel, aus DIE ZEIT 25.03.2004 Nr.14

Es ist fast unbegreiflich, wie wenig Europa von sich selbst und den Vorgängen weiß, die man heute als "ethnische Säuberung" zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Nicht einmal die Zahlen stehen annähernd fest: Sind es 40 oder eher 70 Millionen Menschen gewesen, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ihre Heimat verlassen mussten, nur weil sie Angehörige einer bestimmten Volksgruppe waren oder ihr zugerechnet wurden? An der Größenordnung kann freilich kein Zweifel bestehen: Zwangsumsiedlung, Flucht, ertreibung waren eine Grunderfahrung der Generationen der Weltkriegsepoche - wenigstens im mittleren, östlichen und südöstlichen Europa. Keine Nation und kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Weise von dieser Erfahrung berührt worden wäre.

Die ersten Bilanzen, die es von diesem säkularen Vorgang gibt, sind rasch in Vergessenheit geraten, und es ist fast eine Schande, dass sie auch in Zeiten eines akuten Informations- und Aufklärungsbedarfs nicht wieder zugänglich gemacht worden sind: Eugene Kulischers Europe on the Move (1948), eine Geschichte von Migration und Zwangsmigration im 20. Jahrhundert, die in vielen Details von der Forschung, nicht aber im epischen Zugriff des Zeitzeugen-Historikers überholt worden ist; vor allem aber Joseph Schechtmanns grandiose zweibändige Arbeit European Population Transfers (1946 und 1962). Band VI der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, der die msiedlung und Vertreibung der Deutschen in den gesamteuropäischen Kontext einordnen sollte, gibt es zwar, ist bis heute aber nicht publiziert worden. Es wäre ein eigenes Kapitel, der Frage nachzugehen, wie es kommt, dass einmal erreichte Wissensstände und Aufklärungsleistungen so radikal zurückgenommen werden können. Im Falle von Umsiedlung und Vertreibung war das Thema ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr opportun, die historische Zunft war mit anderen Dingen befasst.

Es beginnt mit der Ausgrenzung ethnischer Minderheiten
Es bedurfte der Erfahrung von 1989, aber auch der Katastrophe in Exjugoslawien in den 90er Jahren, um das Thema auf die Agenda zurückzuholen. Und seither gibt es ein neues Interesse und eine Vielzahl von Veröffentlichungen - gute und schlechte, schnell geschriebene, aber auch solche, die das Feld der Forschung neu bestellen. Es ist ein Verdienst des C. H. Beck Verlages, dass er das Buch des in Stanford lehrenden Osteuropa-Historikers Norman Naimark nun herausgebracht hat. Naimark hat sich hierzulande einen Namen gemacht mit Russen in Deutschland (1997). Sein neues Buch bietet keine Gesamtdarstellung, sondern führt fünf exemplarische Fallstudien in vergleichender Perspektive vor: den Fall der Armenier und der kleinasiatischen Griechen im Osmanischen Reich beziehungsweise der Türkei; die Judenverfolgung im "Dritten Reich"; die Deportation der Tschetschenen-Inguschen und der Krimtataren in der Sowjetunion; die Vertreibung der Deutschen aus Polen und aus der Tschechoslowakei und schließlich die Kriege im ehemaligen Jugoslawien.

Die meisten Kapitel basieren auf dem Stand der jüngsten Forschungen. Einigen ist der Fortschritt durch die Öffnung der Archive anzumerken; andere Kapitel warten mit eigenen, aufschlussreichen Quellenfunden auf - etwa den Tagebüchern von Diplomaten, amerikanischen Zivil- und Militärpersonen mit Augenzeugenberichten zu den Massakern an Armeniern oder der Katastrophe von Smyrna 1922. Überhaupt: Augenzeugenberichte. Es ist eine große Stärke dieses Buches, dass es in mit treffsicher ausgewählten Zitaten die Unmittelbarkeit der Augenzeugenschaft zu ihrem Recht kommen lässt und somit spezifische Charakteristika der "ethnischen Säuberung" zur Anschauung bringt.

Die Einzelstudien waren für den Autor nur zu bewältigen, weil er keine epische Breite anstrebte, sondern eine höchst selektive und pointierte Darstellung. Es handelt sich mehr um Skizzen, Eröffnungen oder Zusammenfassungen der ethnischen Säuberungsvorgänge in vergleichender Absicht. Der "armenische Fall" deutet schon an, wie Moderne, Nationalstaatsbildung, ethnische Homogenisierung und Ausgrenzung von Minderheiten Hand in Hand gingen. Die Deportation und die Massaker an der armenischen Volksgruppe auf dem Boden des Osmanischen Reiches zu Beginn des Ersten Weltkrieges und die Umsiedlung der Kleinasiengriechen, die im Vertrag von Lausanne 1923 besiegelt wurde, erscheinen als die "Kehrseite" des nationalistischen Modernisierungsprojektes der Jungtürken, eine Konstellation, die sich noch verschiedene Male wiederholen wird. Denn immer schien es bei der Entfernung von ethnischen Minderheiten um die "Beseitigung von Konfliktherden", "Fünften Kolonnen", "Agenten des Feindes", die akute oder prophylaktische Bestrafung von illoyalen und unzuverlässigen Staatsbürgern zu gehen. Die gewalttätige Herstellung von ethnischer, staatlicher, kultureller und sprachlicher Homogenität (im sowjetischen Fall kommt hinzu: soziale Homogenisierung und Nivellierung) scheint ein Grundzug "der Moderne" oder "Hochmoderne" (was immer man darunter verstehen mag) zu sein. Und in der Tat endet die Weltkriegsepoche mit der Herstellung von fast zu hundert Prozent ethnisch homogenen Staatsgebilden.

Naimark nimmt den Fall der Juden im "Dritten Reich" auf, obwohl es sich um einen Vorgang "anderer Ordnung" handelte. Doch er kann hieran - wie vor ihm schon Götz Aly - zweierlei zeigen: erstens dass der "Endlösung" viele Schritte vorausgingen, die sie mit Vorgängen "ethnischer Säuberung" an anderen Orten gemeinsam haben, zweitens dass allen "ethnischen Flurbereinigungen" ein genozidaler Zug inhärent ist.

Der sowjetische Fall in Naimarks Studie lenkt die Aufmerksamkeit endlich darauf, dass es in der UdSSR nicht nur eine klassenmäßig gerichtete Repression gegeben hat, sondern - dem Charakter des russischen beziehungsweise sowjetischen Imperiums als Vielvölkerreich durchaus entsprechend - auch eine Repression entlang der ethnischen und nationalen Linien. Dass das Schicksal von Koreanern, Tschetschenen, Inguschen, Krimtataren, Schwarzmeergriechen, auch Wolgadeutschen in der Vergangenheit so wenig wahrgenommen wurde, hat nicht nur mit den Zugangsbedingungen zu den sowjetischen Archiven, sondern auch mit der historischen Konstellation zu tun, die es oft nicht opportun erscheinen ließ, sich auf die Geschicke dieser "kleinen Völker" einzulassen, die kein Organ, keine Lobby hatten, um sich vernehmlich zu machen.

Die Umsiedlung und Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches und aus den Staaten des östlichen und mittleren Europa nimmt bei Naimark die gebührende Stelle ein, handelte es sich doch um den größten "Bevölkerungstransfer" der modernen Geschichte. Mühelos kann Naimark zeigen, dass es in Sachen Aussiedlung der Deutschen ein fundamentales Einverständnis der Kriegsgegner Deutschlands gab. Ethnische Säuberung als Allheilmittel für die Gebrechen einer labilen Staatlichkeit war so etwas wie ein Gemeinplatz der Weltkriegsepoche geworden. Und darin lag wohl auch die Bedeutung des Abkommens von Lausanne 1923, das erstmalig den kollektiven Bevölkerungsaustausch völkerrechtlich sanktioniert hatte. Den Höhepunkt erreichte Europa freilich erst im Verlaufe und am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Heraus aus der Enge nationaler Selbstbetrachtung
Die Wiederkehr der Bilder von Deportationszügen, Flüchtlingstrecks, Zeltlagern in den 90er Jahren während der Kriege in Jugoslawien löste so etwas wie ein Déjà-vu aus, und die Linie, die von den ersten Zwangsumsiedlungen 1913 über das Abkommen von Lausanne 1923, über die von Nazideutschland betriebene "Bereinigung der ethnographischen Landkarte Europas" bis hin zu den Bildern von Vukovar, Sarajevo und Srebrenica, war endgültig als eine Art roter Faden durch das "Jahrhundert der Flüchtlinge" sichtbar geworden.

Der Wert von Naimarks Buch besteht in der knappen und souveränen Skizzierung der "Einzelfälle", vor allem aber in der Diskussion zentraler Aspekte "ethnischer Säuberung": die Rolle des Krieges als Katalysator; die ideelle Vorbereitung durch Konzepte des modernen, auf Totalität und Homogenität gegründeten Staates; der gezielte Einsatz von Gräueln, um Flucht auszulösen und das Gelände zu "reinigen"; der systematische Einsatz von Vergewaltigungen als Mittel ethnischer Kriegführung; die Effekte der Tilgung von kulturellen Spuren und Traditionen. Der Autor formuliert damit Fragen, die den Vertreibungskomplex auf eine andere Ebene heben, heraus aus der Enge einer nur nationalen Selbstbetrachtung des je individuellen Traumas.

Naimark zeigt auf eine sehr nachdrückliche Weise, wie man über eines der beschämendsten Kapitel europäischer Geschichte sprechen kann, ohne in den Ton der Auf- und Abrechnung zu verfallen - ein Beitrag, den man in Zeiten erregter Debatten um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" nicht hoch genug veranschlagen kann. Freilich wird an den in diesem Band zusammengefassten Studien auch klar, dass sie nur ein erster Schritt sein können. Eine komparative Perspektive bleibt letztlich unangemessen gegenüber dem "europäischen Vertreibungskomplex" als Ganzem. Sie reicht an die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs, der Überlagerungen und Korrespondenzen, an das Ineinander von Prozessen nicht heran. Die "Europäisierung des Vertreibungskomplexes" bleibt also ein Desiderat. Sie gehört zu jenen historiografischen Problemen, die zu lösen die Europäer sich immer gewünscht haben, an die sie sich im Ernst bisher aber noch nicht herangewagt haben - von Kulischer und Schechtmann einmal abgesehen.

Zentrum gegen Vertreibungen. Nur ein Hort von Revanchisten, Deutschvölkischen und Holocaust-Relativierern?

Jüdische Intellektuelle widersprechen den Vorwürfen aus der linksradikalen "antideutschen" Szene. Ihre Gegenrede: Nie wieder Krieg, nieder wieder Holocaust, nie wieder Vertreibungen. .: oben :.

Ralph Giordano, aus konkret 9/2004

Ralph Giordano setzt sich unter anderem in seinem Buch "Die zweite Schuld", mit der Verdrängung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik auseinander. KONKRET sprach mit ihm über seine Teilnahme an einer Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen.

Am 19. Juli waren Sie der Hauptredner bei einer Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen (BDV). Viele haben versucht, Sie von einer Teilnahme abzubringen. Warum sind Sie dennoch hingegangen?
Das Motto jener Veranstaltung in Berlin lautete "Empathie - der Weg zum Miteinander". Also Anteilnahme am Leid einer anderen als der eigenen Schicksalsgruppe. Meine von vielen unverstandene Annäherung an einen politischen Topos, der den Ursachen der Vertreibung solange geschichtsblind gegenüber gestanden hat, erklärt sich aus bestimmten, von mir wahrgenommenen Veränderungen im Empathieverhalten der heutigen BDV-Führung, nämlich einer Öffnung hin zu den der Vertreibung vorangegangenen deutschverursachten Opfern. Ein Aspekt, der der vielgerühmten Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom August 1950 völlig fehlt. Ihr setze ich meine Charta entgegen: "Erstverantwortlich auch für die Vertreibung, wie für jeden Zivil- und Militärtoten des Zweiten Weltkrieges, wären Hitler und seine Anhänger - ohne die Vorgeschichte der Vertreibung keine Geschichte der Vertreibung." Diese Grundvoraussetzung meiner Annäherung ist von Erika Steinbach akzeptiert worden.

War das Ganze für den BDV nicht eine Alibiveranstaltung, mit dem Ziel, vom Image als Naziverband wegzukommen; um mehr politische Unterstützung für das "Zentrum gegen Vertreibungen" zu erhalten?
Nach fast drei Jahren persönlichen Kontaktes mit der Vorsitzenden empfinde ich einen Kontrast zwischen ihrer öffentlichen Dämonisierung und meinen Erfahrungen. Ich entdecke da nichts von Verschwörungen und hinterhältigen Versuchen, die Welt - und mich - hinters Licht zu führen. Nein, hier weigert sich vielmehr ein starres Feindbild (zu dem die alte BDV-Führung entscheidend beigetragen hat) konkrete Empathieveränderungen wahrzunehmen.

Sie unterstützen das geplante Zentrum. Warum?
Wäre es ein Museum, in dem es allein um die Vertreibung von Deutschen ginge, hätte ich selbstverständlich nicht mitgemacht. Es heißt aber "Zentrum gegen Vertreibungen", also Plural, eben die des 20. Jahrhunderts. Vertreibung ist ein globales Problem, dem ich als Fernsehmann mehrere Dokumentarfilme gewidmet habe, ein fürchterliches Kapitel, das seine Schatten auch über unsere Gegenwart wirft und unser aller Aufmerksamkeit wert ist.

Ist es aber nicht gerade besonders verwerflich, daß in einem solchen Zentrum Tafeln über die Vertreibung der Deutschen neben solchen über den Holocaust stehen werden?
Originalton Erika Steinbach: "Es war Hitler, der die Büchse der Pandora geöffnet hat", und auf die Behauptungen, die Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" würde Holocaust und Vertreibung gleichsetzen: "Davon kann überhaupt keine Rede sein, weder die Vertreter der Stiftung noch ein Mitglied der Jury haben jemals die Einmaligkeit des Massenmords an den Juden durch die Nationalsozialisten bezweifelt." Man kann diese wahrlich neuen Töne einfach ignorieren, wie Sie es tun. Aber natürlich - alles hängt davon ab, wie das realisierte Zentrum schließlich aussehen wird, auch meine Haltung zu ihm.

In Anbetracht von Frau Steinbachs Äußerung, daß ,die Themen "Juden" und "Vertriebene" einander"ergänzten", weil es sich in beiden Fällen um "entmenschten Rassenwahn" gehandelt habe, kann man sich vorstellen, wie das Zentrum aussehen wird. Offenbar soll in Berlin ein Gegenstück zum "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" installiert werden.
Müssen Ihre zementierten Vorstellungen vom Zentrum, Ihre Auffassungen von einer unbelehrbaren Erika Steinbach denn zutreffen? Keiner von wird mit selbstverständlicher Anteilnahme für die Leiden und Verfolgungen von Menschen aus einer anderen als der eigenen Daseinssphäre geboren - keiner. Das Humanum Empathie wird uns nicht in die Wiege gelegt. Aber in welchem Abschnitt sich die Vorsitzende dabei derzeit auch befinden mag - ich habe. mich überzeugen können, daß sie auf diesem Wege weitergekommen ist. Wer ihr den guten Willen dazu abspricht, stößt auf meinen Widerstand. Gewiß - es hat bei ihr Empathiedefizite gegeben, ja! Doch nur bei ihr? Keineswegs, sondern auch bei mir. War mein Empathieradius über die größere Lebensstrecke doch ebenfalls ganz auf die Leidenssphäre rassistischer Verfolgung begrenzt. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis ich Empathie empfand für das persönliche Schicksal von Menschen, die in den bedrohtesten Jahren meines Lebens auf der anderen Seite gestanden haben und dabei versehrt wurden oder umgekommen sind, ohne daß das simple Opfer/Täter-Schema greifen könnte. Daß Hitler und seine Anhänger primärverantwortlich auch für die Vertreibung waren, bleibt dabei völlig unangefochten.

Ist das der Mehrheit der Mitglieder in den Vertriebenenverbänden klar?
Lange Zeit jedenfalls war es das ganz bestimmt nicht. Heute mag sich manches gewandelt haben. Als Johannes Rau im vergangenen Jahr auf einem Vertriebenentreffen in nicht mehr zu überbietender Deutlichkeit von der deutschen Schuld gesprochen hat, gab es keinen offenen Protest. Immerhin hat der BDV klar Stellung bezogen gegen den juristischen Revanchismus der Preußischen Treuhand und ihrer Rückerstattungsansprüche. Ich bin hochsensibel in diesem Punkt. Wie dick oder dünn das Eis, auf dem meine Annäherung steht, letztlich ist, wird sich zeigen.

Roman Herzog wurde aus gebuht und als "Vaterlandsverräter" bezeichnet, weil er auf dem "Tag der Heimat" von der Gültigkeit der jetzigen deutschen Staatsgrenzen sprach. "Hängt sie auf!. Stellt sie an die Wand!" hatte man auf dem Treffen der Sudetendeutschen 1995 Antje Vollmer zugerufen.
Da hatte 1995, ich erinnere mich, die Riege unbelehrbarer Revisionisten und Revanchisten zugeschlagen - und die gibt es noch. Aber weder verkörpern sie inzwischen die Mehrheit noch den Standort der neuen BDV-Führung. Um die Öffentlichkeit zu überzeugen, muss sich der Geist der BDV-Veranstaltung vom 19. Juli 2004 aus Anlass des 60. Gedenktages an den Warschauer Aufstand allerdings auf allen Landsmannschaftstreffen widerspiegeln. Das steht noch aus.

"Jede Vertreibung ist zu verurteilen"

Julius H. Schoeps zum Thema Vertreibung und dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen .: oben :.

Julius H. Schoeps, aus Jungle World

Es waren illustre Persönlichkeiten, die kürzlich in einer Anzeige die Einrichtung eines so genannten Zentrums gegen Vertreibung in Berlin forderten: etwa der konservative Historiker Arnulf Baring, der Überlebensspezialist Rüdiger Nehberg und der ehemalige Fußballtrainer Udo Lattek. Aber auch Julius H. Schoeps sprach sich für ein solches Zentrum aus. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien. Über seine Haltung sprach mit ihm Jörg Kronauer.

Was halten Sie von der aktuellen Debatte über die Umsiedlung der Deutschen?
Die Debatte entzündet sich an der Initiative, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu gründen. Sie geht u.a. zurück auf Empfehlungen der Bundestagsfraktionen vom Juli des letzten Jahres. Damals waren sich die Parteien alle noch mehr oder weniger einig, dass ein solches Zentrum geschaffen werden soll.

Trägt diese Debatte nicht dazu bei, die Deutschen zu Opfern des Zweiten Weltkriegs zu stilisieren?
Es ist sicherlich so, dass dieses Thema die Gemüter erregt. Nach meiner Ansicht hängt das damit zusammen, dass es sich beim Thema Vertreibung um ein tabuisiertes Thema handelt, über das lange Jahre nicht gesprochen wurde, und wenn darüber gesprochen wurde, waren es verbandspolitische Interessen, die vertreten wurden. Das scheint mir heute anders zu sein, und die Überlegung, ein Zentrum gegen Vertreibungen zu schaffen, halte ich für durchaus legitim, aber nur dann, wenn aller Vertreibungen gedacht wird, die im Europa des vergangenen Jahrhunderts geschehen sind. Ob das nun die Armenier sind, die Polen, die von jenseits der polnisch-sowjetischen Grenze vertrieben wurden, oder ob das in jüngster Vergangenheit Bosnien-Herzegowina gewesen ist. Überall hat es Vertreibungen gegeben, die dokumentiert werden sollten - wobei es nicht um Gebietsansprüche, um Restitutionsforderungen geht, sondern um die Ächtung der Vertreibung als Mittel der Politik.

Würden Sie in die genannten Ereignisse auch die Umsiedlung der Deutschen einordnen?
Ja sicherlich, auch das ist zu berücksichtigen, wobei man natürlich immer nach den Ursachen und Gründen fragen muss. Ein Zentrum, das sich mit der Geschichte und den Problemen der Vertreibungen beschäftigt, muss auch immer über die Ursachen nachdenken und diese thematisieren. Ohne Hitler und die Nazis, die den Krieg im Osten anzettelten und ethnische Säuberungen im großen Stil betrieben, ist die Vertreibung der Deutschen nach 1945 nicht zu verstehen.

Sehen Sie nicht die Gefahr einer Relativierung der deutschen Geschichte, wenn in diesem Zentrum die Umsiedlung der Deutschen direkt neben die Geschehnisse in Bosnien-Herzegowina gestellt wird?
Ich bin der Meinung, es muss alles gleichgewichtig behandelt werden. Die Vertreibungen müssen in einen europäischen Kontext eingeordnet werden. Sie nur national aufzuarbeiten, ist zwar legitim, führt aber nicht zu dem Ziel, Vertreibungen als Mittel der Politik zu ächten.

Dann würden Sie dem SPD-Politiker Markus Meckel zustimmen, der ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen fordert?
Die Ansichten liegen doch gar nicht so weit auseinander. Mir erscheint, dass Missverständnisse zurzeit das Denken blockieren. Ich bedaure das sehr. Man muss miteinander reden. Es scheint mir gar nicht so schwierig zu sein, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln, das von allen getragen wird.

Die Umsiedlung der Deutschen beruht auf dem Potsdamer Abkommen. Würden Sie sie trotzdem als Unrecht bezeichnen?
Es geht jetzt nicht darum, wie etwas zustande kam - das wissen wir ja -, sondern es geht auch um die Befindlichkeiten der jeweiligen Vertriebenengruppen. Die deutschen Vertriebenen hatten das Glück, dass sie in den Westzonen, der späteren Bundesrepublik, integriert wurden. Andere Bevölkerungsgruppen hatten nicht dieses Glück. Ich denke zum Beispiel an die Armenier, die nach ihrer Vertreibung aus der Türkei bis heute in der Diaspora leben.

Der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski sagte kürzlich, wenn man die Umsiedlung als Unrecht bezeichne, dann öffne man die Büchse der Pandora, da dann auch andere Bestimmungen des Potsdamer Abkommens kritisiert werden könnten und neue Revisionsforderungen erhoben würden. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Nein, die teile ich nicht. Niemand wird die Nachkriegsordnung in Frage stellen wollen. Niemand wird versuchen wollen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Um was es geht, und ich wiederhole es noch einmal, ist, die Vertreibung als Mittel der Politik zu ächten.

Sie sind Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Zentrums gegen Vertreibungen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin angefragt worden und habe zugestimmt, als ich hörte, wer die anderen Beiratsmitglieder sind. Ausschlaggebend für mich war, dass auch Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität und Michael Wolfssohn Beiratsmitglieder sind. Es kam hinzu, dass in der Jury des Franz-Werfel-Preises, der von der Stiftung verliehen wird, Ralph Giordano, der diesjährige Träger des Leo-Baeck-Preises, und Daniel Cohn-Bendit sitzen.

Im Beirat sitzt mit Dieter Blumenwitz auch eine Person, die die Süddeutsche Zeitung vor Jahren noch als "rechtsextremen Professor" bezeichnete.
Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich kenne Herrn Blumenwitz nicht, ich weiß bloß, dass er ein namhafter Völkerrechtler ist. Ich bin in den Beirat eingetreten, weil ich die Personen, die ich genannt habe, kenne. Von ihnen weiß ich, dass sie sehr genau überlegen, was sie tun. Sie und ich werden uns keinesfalls für irgendwelche Interessen missbrauchen lassen.

Bundespräsident Johannes Rau sagte beim so genannten Tag der Heimat in Berlin, man könne diejenigen nicht von ihrer Verantwortung freisprechen, "die in Mittel- und Osteuropa erst mit den Deutschen gemeinsam die Juden entrechteten" (er meinte wohl den Massenmord von Jedwabne), "danach die Deutschen". Relativiert so eine Aussage nicht die deutsche Geschichte?
Ich verstehe die Argumentation nicht ganz. Ich bin der Ansicht: Jede Form von Vertreibung ist zu verurteilen. Ob sie nun Polen, Juden oder Deutsche betrifft. Wollen wir nicht im gegenseitigen Aufrechnen verharren, ist es notwendig, den Fragen auf den Grund zu gehen. Das 20. Jahrhundert war bestimmt von Genozid und Vertreibung. Wenn ich richtig informiert bin, waren es mehr als 35 Volksgruppen, die im letzten Jahrhundert von Vertreibungen betroffen waren.

Es gibt auch die Befürchtung, dass mit der Thematisierung anderer Umsiedlungen auch anderswo wieder Spannungen auftreten könnten. An der polnischen Ostgrenze etwa.
Mir ist das Problem schon klar. Ich glaube aber, wenn man Themen beschweigt, ist das viel schlimmer. Man muss die Fragen offen diskutieren, man muss sie erörtern. Im Falle der Vertreibungen wird es eine lange Debatte geben, ähnlich der Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, die über zehn Jahre gedauert hat. Das ist auch gut so, die Debatte ist das Entscheidende. Mag sein, dass noch manches Missverständnis entsteht, aber Missverständnisse können aus der Welt geschafft werden.

Zentrum gegen Vertreibungen. Angst vor dem Tabubruch

Das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" kann zur Ächtung von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen beitragen. Ein Plädoyer für eine europäische Trägerschaft .: oben :.

Julius H. Schoeps, aus die tageszeitung vom 02.10.2003

Zusammen mit einer Reihe überparteilich eingestellter Persönlichkeiten unterstütze ich die Errichtung des geplanten "Zentrums gegen Vertreibungen". Die Stiftungsinitiative dafür haben die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach (CDU) und Peter Glotz (SPD) 2000 ins Leben gerufen. Aufgabe und Ziel des derzeit heftig umstrittenen Stiftungsprojektes ist es, einen Gesamtüberblick über die Vertreibungen in Europa in der jüngeren Geschichte herzustellen. Dazu gehört nicht nur die Berücksichtigung des Schicksals der mehr als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer aus Mittel-, Ost- und Südeuropa mit ihrer Kultur- und Siedlungsgeschichte, sondern auch die Beschäftigung mit den Erfahrungen nichtdeutscher Vertriebenengruppen.

Letzteres ist der eigentliche Grund, warum ich die Errichtung eines solchen Zentrums befürworte. Mich überzeugt der Plan, nicht nur das Vertreibungsschicksal der Ostpreußen, Schlesier oder Sudetendeutschen zu untersuchen, sondern auch jenes der Albaner, Armenier, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Georgier, Inguschen, Krimtartaren, Polen, der Sinti und Roma, der Tschetschenen und Zyprioten griechischer Herkunft. Alle diese Volksgruppen sind Vertreibungsmaßnahmen unterworfen gewesen und haben ein ähnliches Schicksal wie die deutschen Vertriebenen erlitten. Jede dieser Gruppen hat schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die heute aus unterschiedlichen Gründen beschwiegen, verdrängt oder schlicht geleugnet werden.

Als Jude, dessen Familie von den Nazis aus dem Lande gejagt beziehungsweise ermordet wurde, weiß ich, was Genozid und Vertreibung bedeuten können. Diese Einsicht ist der Grund, warum ich der Überzeugung bin, dass keiner Volksgruppe, seien es nun vertriebene Armenier oder vertriebene Deutsche, Serben oder Kroaten, das Recht abgesprochen werden darf, sich den historischen Erfahrungen der eigenen Volksgruppe zu stellen, Erfahrungen, die häufig genug von Totschlag, Mord, Massenschändungen, Verschleppung und Vertreibung geprägt waren und sind.

Die Geschichte der Juden war im letzten Jahrhundert eine fortwährende Geschichte von Genoziden und Vertreibungen. Man jagte sie aus Deutschland, vertrieb sie aus dem von Hitler besetzten Österreich sowie aus den baltischen Staaten und ermordete schließlich diejenigen, die nicht rechtzeitig entkommen konnten. Nach 1945 kam es zu wiederholten Vertreibungen aus Polen und der Tschechoslowakei. Die Aufzählung der Länder, die Juden unter Zwang verlassen mussten, ließe sich beliebig fortsetzen.

Will man wissen, wie es zu Genozid und Vertreibung kam und nach wie vor kommt, dann muss man bemüht sein, radikale Fragen zu stellen. Kann man sich dazu nicht durchringen, dann wird beispielsweise der Genozid an den Armeniern genauso unerklärbar bleiben wie die Vertreibung der Deutschen aus den einstigen Ostgebieten. Um beides zu verstehen, muss man sich mit der jeweiligen Vorgeschichte auseinander setzen. In dem einen Fall waren es die Folgen der jungtürkischen Ideen, die auf ein osmanisches Reich auf islamischer Grundlage abzielten, in dem anderen Fall waren es die Folgen von Hitlers Wahnideen und des von ihm im Osten losgetretenen mörderischen Vernichtungskrieges.

Das Problem der Vertreibungen ist hochgradig emotionsbehaftet. Daran zu rühren, wie wir es zurzeit erleben, kann unliebsame und heftige Reaktionen zur Folge haben. Die Initiatoren des "Zentrums gegen Vertreibungen", das als eine eigenständige Stiftung konzipiert worden ist, werden zurzeit beschuldigt, sie wären Kalte Krieger und Revisionisten, die nichts anderes im Sinn hätten, als das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Doch niemand hat vor, irgendwelche Gebietsansprüche zu stellen oder gar Restitutionsforderungen zu erheben. Den Initiatoren Steinbach und Glotz geht es nicht darum, den Prozess der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Aussöhnung zu hintertreiben. Das wäre in der Tat dem Projekt abträglich, das sich das Ziel gestellt hat, ein weitgehend tabuisiertes Thema zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte zu machen - ähnlich wie das Lea Rosh vorgemacht hat, als sie die Debatte um die Errichtung des Berliner Holocaust-Mahnmals anstieß. Dem Unterstützerkreis gehören Historiker, Völkerrechtler, Soziologen, Theologen und Journalisten an. Sie stammen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Ungarn, Polen, der Schweiz und Israel. Alle verbindet die Überzeugung, dass Vertreibungen und ethnische Säuberungen als Mittel der Politik geächtet gehören. Das geplante Zentrum, so meinen sie, kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Dass das "Zentrum gegen Vertreibungen" kein Propagandainstrument der Vertriebenverbände ist, wird u. a. daran deutlich, dass die Stiftung einen "Franz-Werfel-Menschenrechtspreis" ins Leben gerufen hat, der dieses Jahr an Mihran Dabag, den verdienstvollen Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung in Bochum, vergeben wurde. Die Mitglieder der Jury waren u. a. Daniel Cohn-Bendit, Ralph Giordano und György Konrád, die über jeden Verdacht erhaben und der beste Beweis dafür sind, dass in den letzten Jahren ein Umdenken in der Vertreibungsproblematik eingesetzt hat. Allerdings sollte darüber nachgedacht werden, ob sich für das Zentrum nicht eine Konstruktion anbietet, die auch die Interessen von Polen und Tschechien berücksichtigt. Eine solche Konstruktion könnte beispielsweise eine europäische Trägerschaft sein. Kuratorium und Beirat wären dann entsprechend zu besetzen. Der Präsident des Zentrums könnte dann ein Pole sein? Der Stellvertreter vielleicht ein Tscheche oder ein Deutscher? Denkbar sind viele Varianten.

Strittig ist allerdings nach wie vor der Standort. Ich habe zunächst Straßburg favorisiert, den Sitz des Europäischen Parlaments, aber ich habe auch keine Einwände gegen Berlin. Für Straßburg spricht, dass es ein neutraler Ort ist, für Berlin wiederum, dass die Stadt heute eine Drehscheibe zwischen West und Ost ist und sich zunehmend zu einer kosmopolitischen Metropole entwickelt. Ein anderer Vorteil, den Berlin noch aufzuweisen hat, ist der, dass in der Stadt bereits zahlreiche Institutionen existieren wie die "Topographie des Terrors" und die "Stiftung Holocaust-Denkmal", die sich für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum anbieten. Aber das wirklich ausschlaggebende Argument, das für Berlin als Standort angeführt werden könnte, ist ein anderes. Von Berlin sind im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege ausgegangen, in deren Gefolge grauenhafte Genozide und Vertreibungen stattfanden. Gerade diese Überlegung, so paradox sie manchem erscheinen mag, spricht dafür, Berlin als Standort zu wählen.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-mayr.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-oester.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-bunzl.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-ant.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/jued-st.html | www.gfbv.it/3dossier/pogrom-dt.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch2.html | www.gfbv.it/3dossier/war/gutman-rieff.html | www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html | www.gfbv.it/3dossier/linkgfbv.html#shoah

* www:
Europas verschobene Völker: www.zeit.de/archiv/1999/18/199918.wanderungen_.xml
Der wandernde Kontinent: www.politische-bildung.at/content/download/2249/massenmigration%20europa.pdf
Raphel Lemkin: www.hist.net/ag-genozid/lemkin.htm
Literaturhinweise Vertreibungen: www.zeit.de/archiv/1999/18/199918.literaturhinweis.xml
Zentrum gegen Vertreibungen: www.z-g-v.de/flashintro/deu/index_flash_deu.html
Bund der Vertriebenen: www.bund-der-vertriebenen.de/infopool/zentrumggvertreibung.php3
Lexikon: www.lexikon-definition.de/Zentrum-gegen-Vertreibungen.html
Monitor: www.wdr.de/tv/monitor/pdf/031009e_vertriebenenzentrum.pdf
Internationaler Aufruf gegen ein Zentrum gegen Vertreibungen: www.salzborn.de, www.offizin-verlag.de/buch.php3?ID=30, www.sopos.org/aufsaetze/3d18db8cdf4b8/1.phtml
Antideutsche: www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1008975600.php
Der Rechte Rand: www.nadir.org/nadir/periodika/drr/archiv/NR59/nr59-1n-salzborn1.htm, www.wdr.de/tv/monitor/beitrag.phtml?bid=535&sid=103
Gegenrede: members.aol.com/sozabc/0311091.htm
ZDF: www.zdf.de/ZDFde/inhalt/21/0,1872,2005653,00.html
Polen & Deutsche: www.polen-news.de/puw/puwarch.html
Warschauer Ghetto: www.uni-protokolle.de/Lexikon/Warschauer_Ghetto.html
Bundeszentrale politische Bildung: www.bpb.de/publikationen/DTGNTT,0,0,Die_Vertreibung_der_Deutschen_aus_den_Gebieten_jenseits_von_Oder_und_Nei%DFe.html
Leopold Grünwald: www.demokratiezentrum.org/display_glossar.php?ID=588
Adalbert Stifter-Verein: www.asv-muen.de/de/main/kontakt.htm
Wenzel Jaksch: www.bohemistik.de/europamain.html
Flüchtlingsbewegungen: www.materialien.org/texte/migration/fluebewrass.pdf
Institut für Migrationsforschung: www.materialien.org/texte/migration/fluebewrass.pdf

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