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Von Valeska Ebeling
Bozen, Göttingen, Januar 2016
Den Baiga in Indien droht im Namen des Tigerschutzes die Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat. Foto: PraveenaSridhar/Flickr BY-NC-SA 2.0.
"Wir waren an einem Ort, an dem wir alles hatten, was wir
brauchten; und sie haben uns zu einem Ort gebracht, an dem wir
nichts haben. Sie unterschätzen unsere Fähigkeiten und
machen aus uns wieder Kinder, die auf ihre Eltern angewiesen
sind", klagt Molemisi, ein Angehöriger der Buschleute in
Botswana. Wie bei den meisten indigenen Völkern, die von
ihrem angestammten Land vertrieben werden, erlebte auch Molemisis
Gemeinde großes Leid. Doch kaum einer würde zu
vermuten wagen, dass ihnen dieses Leid im Namen des Naturschutzes
angetan wurde, und dass viele indigene Völker weltweit
dieses Schicksal teilen. Das ist jedoch keinesfalls ein neues
Problem. Viele der größten und einflussreichsten
Naturschutzorganisationen vertraten anfänglich die Meinung,
dass Mensch und Natur im Gegensatz zueinander stehen und die
Umwelt nur vor Zerstörung bewahrt werden kann, wenn der
Mensch aus ihr verbannt wird. Als 1872 die USA den weltweit
ersten Naturschutzpark Yellowstone gründeten, durften die
Native Americans nur zunächst dort bleiben. Fünf Jahre
später wurden sie zwangsumgesiedelt.
Auch die Umweltschützer des 19. Jahrhunderts waren davon
überzeugt, dass die "Wildnis" nur ohne Menschen intakt
bleiben könne. Doch sie erkannten nicht, dass die indigene
Bevölkerung viele Landschaften über Generationen
gestaltet und gepflegt hatte. Stattdessen waren sie davon
überzeugt, dass sie es als "wissenschaftliche"
Naturschützer besser wussten. Zwangsumsiedlungen wurden von
diesem Augenblick an zur Standardmaßnahme des
Naturschut-zes in der ganzen Welt - und sind es heute noch. Dabei
ist das Konzept von "Wildnis", dass die großen
Naturschutzorganisationen immer wieder erwähnen und
fördern, fehlerhaft - denn die meisten Naturschutzzonen und
80 Prozent der weltweiten Biodiversität liegen auf indigenen
Territorien. Indigene Völker haben nachhaltige Lebensweisen
entwickelt und dazu beigetragen - manchmal über Jahrtausende
- eine hohe Artenvielfalt in ihrer Umwelt zu fördern.
Dennoch wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Lebensweise
ändern und oft auch die spirituelle Verbindung zu ihrem Land
aufgeben. Mit jeder geplanten Umsiedlung wird von ihnen erwartet,
dass sie den Verlust ihrer Lebensgrundlage einfach
akzeptieren.
Egal, aus welchen Gründen indigene Völker vertrieben
werden, sei es aufgrund von Bergbau, Fracking, Abholzung,
großflächiger Landwirtschaft oder Naturschutz, die
Folgen sind immer dramatisch: Eine vertriebene Gemeinschaft
verliert ihre Existenzgrundlage und damit die Möglichkeit,
sich selbst zu versorgen. Die ältere Generation kann dann
der jüngeren oft nicht mehr das Wissen vermitteln, das zum
Überleben notwendig ist. Zudem verschlechtert sich der
Gesundheitszustand einer vertriebenen Gemeinschaft oft dramatisch
wie etwa bei den rund 6.000 Batwa zwischen den 1960er und 1980er
Jahren in der Demokratischen Republik Kongo. Sie wurden aus dem
Nationalpark Kahuzi-Biega vertrieben, in dem sie sich selbst
versorgt und als Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft gelebt
hatten. Für ihren Lebensunterhalt und die Ausübung
identitätsspendender Aktivitäten waren die Batwa auf
ihr Land angewiesen. Sie haben dort gejagt, gefischt und ihre
traditionelle Kultur leben können. Doch ohne ihr Land
können sie weder jagen noch sammeln; viele Batwa leiden
deshalb unter Mangelernährung. Da sie oft in verarmten und
überbevölkerten Gebieten angesiedelt werden, sind die
Batwa außerdem einer erhöhten Ansteckungsgefahr mit
sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV/Aids
ausgesetzt.
Viele Regierungen entschädigen indigenen Gemeinschaften
für den Verlust des Landes nicht wie zuvor versprochen.
Deshalb leben die Vertriebenen oft am Rand der Naturschutzgebiete
unter katastrophalen Bedingungen. Von einem Tag zum anderen
werden sie zu "Opfern des Naturschutzes" und sind auf Hilfe von
außen angewiesen. Manchmal wird auch nur unter dem Vorwand
des Tierschutzes argumentiert, wenn Menschen zwangsumgesiedelt
werden sollen, wie etwa die aktuellen "Bemühungen" der
Regierung Botsuanas zeigen: Sie will Buschleute aus dem
Nationalpark Central Kalahari Game Reserve unter dem Vorwand
vertreiben, sie seien ein Risiko für die Tierbestände.
Dabei gehen die Buschleute nachhaltig mit ihrer Umwelt um und
jagen das Wild nur für den Eigenverzehr. Sie werden
gefoltert, geschlagen und festgenommen, wenn Wildschützer
und Polizisten sie bei der Jagd erwischen. Die Regierung hingegen
hat innerhalb des Schutzgebietes den Abbau von Diamanten erlaubt
und stellt sogar Genehmigungen für Fracking-Erkundungen aus
- beides Aktivitäten, die weder umwelt- noch
tierschutzfreundlich sind. 2014 führte die botsuanische
Regierung im ganzen Land ein Jagdverbot ein, das auch die
Buschleute betrifft - aber nicht Trophäenjäger. Ein
ausländischer Tourist hat also immer noch das Recht,
für Tausende US-Dollar eine Giraffe oder ein Zebra zu
erlegen, während es den Buschleuten verboten ist zu jagen,
um ihre Familien zu ernähren.
Ähnlich ist die Situation einiger indigener Völker in
Indien, wie zum Beispiel der Baiga und Soliga. Ihre angestammten
Gebiete befinden sich auf dem Land, das zu Tigerreservaten
erklärt wurde. Schätzungsweise leben in Indien drei bis
vier Millionen Menschen in Nationalparks. Sie befinden sich in
ständiger Angst, von einem Tag auf den anderen vertrieben zu
werden - oft mit der Begründung, ihre Anwesenheit würde
dem Tiger schaden. 2013 kündigten die Behörden an,
indigene Khadia-Familien hätten sich "entschieden", das
Tigerschutzgebiet Similipalfreiwillig zu verlassen, und dies
unmittelbar als "Erfolg" verkauft. Aussagen einiger Khadia
gegenüber Survival International zeigen jedoch, dass das
indigene Volk sein Land keinesfalls freiwillig verlassen hat: Mit
Zuckerbrot - in Form von Land, Vieh und Geld - und Peitsche - in
Form von Einschüchterungen durch Forstbeamte - wurden die
Khadia zum Verlassen ihres Landes "ermutigt". Sie wurden in ein
Lager umgesiedelt, in dem sie lange unter Plastikplanen der Hitze
des indischen Sommers ausgesetzt waren. Sie bekamen von der
Forstbehörde bloß eine Woche lang Nahrung und vom
versprochenen Land, Vieh und Geld haben sie bis heute kaum etwas
erhalten.
Den Behörden zufolge soll das restliche Geld auf Bankkonten
verfügbar sein. Doch die Khadia wissen nicht, wie sie an das
Guthaben kommen sollen. Nach der Umsiedlung der Khadia wurden die
Munda, ein weiteres indigenes Volk aus der Region, durch das von
Behörden titulierte "Vorzeigedorf" der Khadia geführt.
Die Munda waren entsetzt über das, was sie dort sahen. Sie
waren fest entschlossen, dieses Schicksal nicht zu teilen: "Wir
würden lieber sterben, als das Dorf zu verlassen", sagte der
Munda Telenga Hassa. Doch für 32 Familien war der Druck
einfach zu groß - sie wurden im September 2015
"umgesiedelt". An dem Tag, nachdem sie gegangen waren, setzte die
Forstbehörde Elefanten ein, um ihre alten Häuser zu
zerstören - für den Fall, dass sie versuchen
würden zurückzukehren.
Wie wichtig es jedoch für den Tiger ist, das Recht indigener
Völker auf ihr angestammtes Land zu achten, spiegelt sich in
erstaunlichen Zahlen wider: Von 2010 bis 2014 hat sich die
Tigerpopulation im BRT-Reservat im südindischen Bundesstaat
Karnataka nahezu verdoppelt - von 35 auf 68 Tiere. Im Gegensatz
zu anderen Gebieten in Indien durften die indigenen Soliga dort
gemeinsam mit den Tigern auf ihrem angestammten Land leben. Der
Zuwachs der Tigerpopulation im BRTReservat ist damit wesentlich
höher als der Zuwachs der Population im nationalen
Durchschnitt - was eine einfache Erklärung hat: Die Soliga
leben in einer engen Beziehung mit ihrer Umwelt und verehren die
Tiger. "Wir beten die Tiger als Götter an. Es gab in der
Vergangenheit nicht einen einzigen Zwischenfall, bei dem Tiger
und Soliga miteinander in Konflikt geraten wären - auch
nicht bei der Jagd", sagte Madegowda, ein Mann vom Volk der
Soliga.
Was passiert mit der Umwelt, wenn ein indigenes Volk von seinem
Land vertrieben wird? Nicht nur die vertriebenen Menschen leiden
unter der Trennung, meist verändert sich auch die Natur
nicht zum Positiven. So fiel den ersten Siedlern in Australien
das "parkähnliche" Aussehen der Wälder auf: In den
offenen Ebenen standen die Bäume weit auseinander und
zwischen ihnen wuchs kein Gestrüpp. Die Aboriginal
Australians haben über Jahrhunderte ein System entwickelt,
nach dem sie bewusst Flächen in Brand setzen und so
buschfrei halten. Heute wird immer deutlicher, dass die Art, wie
sie ihr Land bewirtschaftet haben, das Risiko großer
zerstörerischer Brände reduziert hat. Heute ist das
kontrollierte Abbrennen jedoch verboten, obwohl in den
vergangenen 90 Jahren Buschbrände Australien viele Millionen
Euro gekostet haben. Ein Vergleich zwischen Naturschutzgebieten
und durch von Gemeinschaften bewirtschaftete Wälder hat
gezeigt, dass indigene Völker besser gegen
zerstörerische Abholzung vorgehen als beispielsweise
Behörden. So werden viele Schutzgebiete von unzureichend
geförderten, unmotivierten und manchmal korrupten
Angestellten schlecht verwaltet. Die indigenen Völker indes
sind zum Überleben auf den Wald angewiesen, weshalb sie auch
nachhaltig mit ihm umgehen.
Indigene Völker sind mit ihrem Land eng vertraut und haben
ein unvergleichliches Wissen über die Pflanzen- und
Tierwelt. Das macht sie zu erfolgreichen Verwaltern ihrer
Gebiete. Die komplexen Jagd- und Sammelsysteme, die sie
entwickelt haben, tragen nicht nur dazu bei, eine
Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, sondern auch lokale
Ressourcen zu bewahren. Wenn sie jedoch vertrieben werden,
verlieren sie die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, und
geraten als erfahrene Fährtenleser und Jäger in Gefahr,
Verbündete von Wilderern zu werden, anstatt mit
Naturschutzorganisationen zusammenzuarbeiten. Indigene
Völker sind die "Augen und Ohren" ihrer Gebiete und daher am
besten in der Lage, Wilderei zu verhindern. Um dies zu
fördern, müssen Naturschützer aber die Partner
indigener Völker werden und von ihnen lernen, sie
respektieren und ihnen helfen, ihr Land zu schützen. An
vielen Orten der Welt brauchen indigene Völker dringend
Hilfe - bekommen diese aber nicht von Naturschützern.
Deswegen fordert die Menschenrechtsorganisation Survival
Internationalmit ihrer Kampagne "Indigener Naturschutz" ein
radikales Umdenken des Naturschutzes und
Lösungsansätze, die die Rechte indigener Völker
und den Respekt für ihre Lebensweisen in den Mittelpunkt
stellen.
[Zur Autorin] Valeska Ebeling arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Survival International (www.survivalinternational.de/indigener-naturschutz).
Aus pogrom-bedrohte Völker 290 (5/2015)
Vedi anche in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/global-sozial.html
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| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/0608report-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/06report.html
| www.gfbv.it/3dossier/siberia/artic2006-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/siberia/klima2006-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/penan.html
www: www.survivalinternational.de
| https://en.wikipedia.org/wiki/Indigenous_peoples