Offene Brief an den EU-Kommissar Franco Frattini
Bozen, 13. Januar 2005
Sehr geehrter Herr Kommissar,
Es ist eingetreten, was wir und andere
Menschenrechtsorganisationen befürchtet haben. Die
Flutkatastrophe in Süd-Ost-Asien wird von einigen Staaten
dazu missbraucht, gegen missliebige Bevölkerungsgruppen
vorzugehen. Indien unterbindet die Hilfe für die indigenen
Menschen auf den Inseln im bengalischen Golf, Burma verweigert
Hilfsorganisationen die Einreise, um die ethnischen
Säuberungen verbergen zu könne. Auf Sri Lanka
verweigert der Zentralstaat teilweise die Hilfe für die
tamilische Minderheit. In der Provinz Aceh auf der indonesischen
Insel Sumatra führt die Armee ihren Krieg gegen die
Bevölkerung trotz der Flutkatastrophe fort.
Alle Bemühungen zum Wiederaufbau in der Provinz Aceh auf
Sumatra scheitern, wenn der Krieg dort nicht beendet und Frieden
geschlossen wird. Bislang ist die indonesische Armee nicht zu
einem Frieden in Aceh bereit, da sie um den Verlust ihrer
Privilegien fürchtet. Indonesische Offiziere profitierten
von der Ausplünderung der rohstoffreichen Provinz.
Entscheidend ist, ob die vielen Mittel die Not leidenden
Acehnesen erreichen. Indonesiens Militärs und Behörden
gehören zu den Korruptesten in der Welt. Zehn Tage lang
machte die indonesische Armee mit ihrem katastrophalen
Missmanagement der Nothilfe schon deutlich, dass sie mit der
Koordination der Hilfe überfordert ist.
Die indonesische Armee missbraucht den Aceh-Konflikt, um den
demokratischen Politikern Indonesiens und der Öffentlichkeit
glauben zu machen, dass Indonesien ohne die Militärs
auseinander brechen werde. Seit 1976 sind in dem Krieg in Aceh
mehr als 12.000 Menschen getötet worden.
Einschüchterungen von Menschenrechtlern, willkürliche
Verhaftungen von Zivilisten, Folter und Vergewaltigung im
Gewahrsam der Sicherheitskräfte sind alltäglich.
Es ist blanker Zynismus, wenn die Armee nach der Flutkatastrophe
einen Waffenstillstand ankündigt, doch ungeachtet dieser
schlimmsten Katastrophe in der Geschichte Acehs ihre
Militär-Aktionen gegen die Freiheitsbewegung GAM
unvermindert fortsetzt. Soldaten können nicht gleichzeitig
als Kämpfer und als humanitäre Helfer auftreten. So
wurden in der Stadt Banda Aceh erschöpfte und traumatisierte
Flüchtlinge von Soldaten verhört und nach Kontakten mit
der GAM befragt. Sowohl im Norden als auch im Osten Acehs sind
Dörfer nach GAM-Kämpfern durchsucht, Zivilisten von
Soldaten bedroht und eingeschüchtert und mutmaßliche
Stellungen der GAM angegriffen worden.
Das wahre Ausmaß der Katastrophe ist sehr viel
größer, als von der indonesischen Regierung bislang
eingeräumt wird. Als offiziell 80.246 Tote in Aceh
gezählt waren, stellte die Regierung jede weitere
Zählung ein. Der indonesische Botschafter in Malaysia
Rusdihardjo hatte von bis zu 400.000 Opfern unter den vier
Millionen Bewohnern Acehs gesprochen.
Als Ohrfeige für ausländische Helfer und
Verhöhnung der Überlebenden der Flutkatastrophe in Aceh
ist die Entscheidung der indonesischen Regierung zu bezeichnen,
dass alle ausländischen Soldaten das Katastrophengebiet bis
Ende März verlassen müssen. Statt die langfristige
Hilfe ausländischer Armeen dankbar anzunehmen, fügt
sich die indonesische Regierung der Kritik radikal muslimischer
Gruppen. Indonesiens Führung hat nicht das Wohl der
Überlebenden der Flutkatastrophe im Auge, sondern lässt
sich von innenpolitischem Kalkül leiten, wenn es die Hilfe
des Auslands einschränkt. Vor allem US-amerikanische und
australische Soldaten haben wertvolle Katastrophenhilfe in Aceh
geleistet.
Radikal-muslimische Milizen der "Bewegung der Islamischen
Verteidiger"(FPI) und der "Indonesische Rat der Mujahidin" (MMI)
hatten in den vergangenen Tagen mehrfach einen sofortigen Abzug
der ausländischen Soldaten gefordert, da sie die Helfer
beschuldigten, eine internationale Intervention vorzubereiten, um
einen unabhängigen Staat Aceh zu gründen. Auch der des
Terrorismus und der Zusammenarbeit mit Osama Bin Laden
beschuldigte muslimische Geistliche Abu Bakar Bashir hatte vor
einem langfristigen Engagement ausländischer Soldaten
gewarnt. Bashir war für Terroranschläge gegen
ausländische Touristen in Bali Im Oktober 2002
verantwortlich. Die Milizionäre der FPI und der MMI haben
seit Ende der 90er Jahre systematisch Spannungen zwischen
Muslimen und Christen in Konfliktregionen Indonesiens (Molukken,
Sulawesi) mit ihrer einseitigen Parteinahme für radikale
Muslime Konflikte geschürt.
Wir erinnern Sie daran, dass die indonesische Armee auf Ost-Timor
seit der Invasion von 1975 mehr als 200.000 Menschen ermordet
hatte. Zehntausend Menschen fielen Militäraktionen in
Westpapua, auf den Molukken, in Kalimantan und Siberut zum Opfer.
Es darf nicht sein, dass die Spenden europäischer
Bürger und europäischer Staaten von diesen
Militärs "kontrolliert" werden. Setzten Sie sich dafür
ein, dass die EU entsprechenden Druck auf die indonesische
Regierung ausübt.