Bozen, Göttingen, Berlin, 2. Dezember 2005
Offener Brief an Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
Sehr geehrter Herr Minister,
am kommenden Samstag werden Sie als erster Repräsentant der
schwarz- roten Bundesregierung nach Russland reisen. Viele
Deutsche sehen Ihrem Antrittsbesuch in Moskau zu Recht mit
gemischten Gefühlen entgegen. Auch die Gesellschaft für
bedrohte Völker (GfbV) erwartet eine Neuorientierung der
deutschen Russlandpolitik. Dazu gehört, dass Deutschland
alle russischen und internationalen Friedensinitiativen zur
Beendigung des Tschetschenienkrieges unterstützen und immer
wieder - auch öffentlich - russische Kriegsverbrechen in
dieser Region verurteilen muss. Darüber hinaus sollte
deutsche Politik alle Ansätze zur Verteidigung und
Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland
fördern.
Anbei überreichen wir Ihnen unseren neuen
Menschenrechtsreport zur Situation in Tschetschenien und den
benachbarten muslimischen Kaukasusrepubliken. Dort beherrschen
noch immer Gewalt und Angst den Alltag. Nachdem etwa 80.000
Menschen im ersten Tschetschenienkrieg getötet worden waren,
ist Wladimir Putin für den Tod von mindestens weiteren
80.000 Menschen verantwortlich.
Wir erinnern daran, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder
allzu massiv - ohne Rücksicht auf die UN-Konvention zur
Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 und
entgegen grundsätzlichen Prinzipien des
freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates - die Politik des
russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt und
ihn zum "lupenreinen Demokraten" befördert hatte. Damit
wurden historische Ängste der Völker Osteuropas
bestärkt, der Verfall der russischen Demokratie nicht
aufgehalten, die Fortsetzung des Genozids in Tschetschenien
begünstigt und somit die Entstehung eines militanten
Islamismus in den muslimischen Kaukasusrepubliken Russlands
hingenommen.
Tiefpunkte der bisherigen deutschen Tschetschenienpolitik waren
die Entsendung einer Arbeitsgruppe des Bundesnachrichtendienstes
BND unter August Hanning Anfang März 2000 in das dem
Erdboden gleichgemachte Grosny, in dessen Kellern nach dem
Terrorbombardement der russischen Luftwaffe noch Tausende Tote
lagen, sowie die Einladung der beiden mutmaßlichen
Kriegsverbrecher Alu Alchanow und Ramsan Kadyrow im Frühjahr
2005 zur Eröffnung der Hannover Messe durch Präsident
Putin und Bundeskanzler Schröder.