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Thomas Benedikter, Alessandro Michelucci
Bozen, 26. März 2012
Flüchtlingskinder in einem Lager in Sam Ouandjam/Darfur. Foto: NR_UNHCR.
Der Begriff des Völkermords ist von Raphael Lemkin
während des 2. Weltkriegs entwickelt worden. Der
polnisch-jüdische Jurist und Friedensforscher hatte sich
schon vor dem Holocaust intensiv mit dem Völkermord an den
Armeniern befasst und im schwedischen Exil den Holocaust zu
dokumentieren versucht. Mit Blick auf die Verbrechen an den
Armeniern im Osmanischen Reich hatte er dem Völkerbund 1934
einen Entwurf für eine internationale Konvention gegen
Genozid vorgelegt. 1947 fertigte Lemkin für die Vereinten
Nationen einen neuen Gesetzentwurf an, der 1948 fast
unverändert von der VN-Generalversammlung mit 55:0 Stimmen
als "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des
Völkermords" in Kraft gesetzt wurde. Seit dem 9. Dezember
1948 ist Völkermord ein Straftatbestand im Völkerrecht.
Wie wenig abschreckend allerdings diese Konvention wirkte,
beweist die lange Reihe neuer Völkermorde in der
Nachkriegszeit bis heute.
Einen internationalen Gedenktag an alle Völkermorde der
Geschichte gibt es bis heute nicht, doch wird in vielen
Länder Europas immer am 27. Jänner des Holocausts
gedacht. Die Tragödie des Massenmords des Nazi-Regimes an
den Juden Europas wird dabei als eine geschichtlich einzigartige
und unwiederholbare Katastrophe begriffen, als das Verbrechen
gegen die Menschlichkeit schlechthin. Jeder Vergleich mit anderen
Völkermorden verbat sich oder würde wohl heute noch als
Sakrileg empfunden. Doch Völkermord im Sinne von Raphael
Lemkin geschah vor und nach dem Holocaust. Der Begriff wurde seit
1948 nach und nach auf Verbrechen angewandt, bei welchen
systematisch und gezielt ein Volk oder eine Volksgruppe zur
Gänze oder zum Teil vernichtet wurde oder vernichtet worden
war. In den meisten Fällen wurden diese Verbrechen von
diktatorisch regierten Staaten, in verschiedenen Fällen auch
von westlichen Demokratien begangen. Man sprach von
Völkermord an den Armeniern, an den Indianern Amerikas, an
den Tataren, an den Aborigenes Australiens und den
Indianervölkern Amerikas und zahlreichen anderen indigenen
Völkern während der Kolonialzeit. Der erste
Völkermord des 20. Jahrhundert war übrigens der
Massenmord der deutschen Kolonialmacht an den Herero in
Deutsch-Südwestafrika (Namibia), dem 80% dieses Volks zum
Opfer fiel.
Das Konzept und der Rechtstatbestand des Völkermords gewann
in der Nachkriegszeit tragische Bedeutung, da es immer wieder zu
grauenvollen Genozidverbrechen kam: Biafra, Kambodscha, Vietnam,
Kurdistan, Ruanda, Osttimor, Bosnien, Darfur und andere mehr. Im
Unterschied zu den Armeniern und zum Holocaust wurden Berichte
über aktuelle Völkermorde in den letzten 30-35 Jahren
vom Fernsehen direkt in die Wohnzimmer der Europäer
transportiert. Medien und Menschenrechtsaktivisten haben ein neue
Art der Reaktion, Intervention und Reflexion auf diese Verbrechen
ausgelöst. Doch ein global und allgemein verankertes
Bewusstsein der moralischen und rechtlichen Verpflichtung der
Staatengemeinschaft zum sofortigen Handeln bei
Völkermordverbrechen ist noch nicht entstanden. Sonst
wären etwa die jahrelangen Verbrechen der sudanesischen
Regierung in Darfur nicht toleriert worden.
Auf diesem Hintergrund ist die Debatte zu Völkermord in ein
neues Licht gerückt. Der Holocaust steht für
Völkermord schlechthin, Der Tag der Shoah, der
alljährlich am 27.1. begangen wird, ist Ausdruck der
besonderen Verpflichtung und Verantwortung der Deutschen in der
Erinerung an Völkermord. Er hat vor allem in Deutschland,
aber auch in Italien eine unbestrittene Legitimität. Doch an
jenem Gedenktag wird im Allgemeinen nicht den Völkermorden
als solchen gedacht, weil der Holocaust als geschichtlich
einzigartiges Verbrechen betrachtet wird. Das kollektive
Gedächtnis der Menschheit muss allerdings in Sachen
Völkermord weiter reichen. Die Tragödie der
Judenvernichtung im Dritten Reich soll damit nicht im mindestens
herabgestuft werden, sondern kann vielmehr in den Fluss einer
schrecklichen Kontinuität von Völkermord in der
Menschheitsgeschichte gestellt werden, als die extremste Form des
Verbrechens, das ansonsten in einem Reich des Unbegreiflichen
gefangen blieben. Wie die Juden Europas haben zahlreiche
Völker und Volksgruppen ein Schicksal erlitten, das zu ihrer
gänzlichen oder teilweisen Ausrottung führte. Es fehlt
jedoch bis heute ein Gedenktag, an dem allen
Völkermordverbrechen der Menschheitsgeschichte gedacht wird.
Nicht nur jener des 20. Jahrhunderts, sondern auch jener, die
früher verübt worden und nie als solche von
Nachfolgestaaten anerkannt worden sind, wie z.B. die Ausrottung
unzähliger Indianervölker Amerikas und anderer
indigener Völker in der Kolonialzeit.
Einen solchen Tag der Erinnerung an alle Völkermorde gibt es
auf informeller Ebene bereits: alljährlich wird am 22.
Jänner in London auf Initiative der Islamic Human Rights
Commission IHRC der "Genocide memorial Day" abgehalten (www.ihrc.org.uk; und: www.genocidememorialday.org).
Die Initiative ist absolut nachahmenswert. Wenn Völkermord
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt, wäre es
zu wenig, dass jedes als Täter oder Opfer direkt betroffene
Volk dessen gedächte. Natürlich gedenkt jeder, dessen
Vorfahren, Angehörige und Freunde vom Morden betroffen war,
einem solchen Verbrechen ganz anders. Doch in historischer und
allgemeinpolitischer Sicht muss auch dem Völkermord an sich
gedacht werden, muss an das Grauen, das ganzen Völkern und
Volksgruppen angetan wurde, erinnert werden, um weltweit zu
statuieren: nie wieder! Nie wieder nicht nur Auschwitz, sondern
auch Ruanda, Biafra, Osttimor, Tschetschenien und Kambodscha.
Völkermord ist ein "Menschheitstrauma", es liegt im Bereich
des Möglichen, und ist auch in der Zukunft nicht
ausgeschlossen. Insofern ist ein internationaler Gedenktag
für die Opfer des Völkermords, ein Nachdenktag
über die schlimmsten Akte der Unmenschlichkeit in der
Geschichte, mehr als legitim. Der 9. Dezember, Tag der
Verabschiedung der Völkermordkonvention der VN, böte
sich dafür an.
Alessandro Michelucci,
Dokumentationszentrum "Bedrohte Völker", Florenz
Thomas Benedikter, Mitbegründer der
GfbV-Südtirol, Bozen
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/africa/darfur-delius.html
| www.gfbv.it/3dossier/africa/herero.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet-ud.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/tibet.html |
www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch2.html
| www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html |
www.gfbv.it/3dossier/armeni/010720armeni.html
| www.gfbv.it/3dossier/siberia/sibiri-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/asia/penan.html |
www.gfbv.it/3dossier/africa/pigmei-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/australdt.html
in www: www.ihrc.org.uk | www.genocidememorialday.org
| www.crimesofwar.org |
www.ifhv.de