Bozen, Göttingen, 20. Oktober 2005
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat am
Donnerstag vor einer Gewalteskalation in Karbadino-Balkarien
unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewarnt. Der bekannte
Kolumnist der Internetzeitung "The Moscow Times", Pavel
Felgenhauer, hatte der Menschenrechtsorganisation per E-Mail
mitgeteilt, ihm lägen Augenzeugenberichte über
"willkürliche Rachemorde, ethnisch und religiös
motivierte Morde an Mitgliedern der Minderheit der Balkaren durch
lokale Polizeibeamte, die zumeist der Gruppe der Kabardiner
angehören, und Berichte über ein Massaker" vor. Die
Zahl der Toten soll deutlich über der von Moskau offiziell
verkündeten Zahl von 91 getöteten Rebellen und
zwölf getöteten Zivilisten liegen. In der Moschee seien
über 300 Leichen aufgebahrt.
Felgenhauer wirft den russischen Behörden vor, die
Ereignisse in Naltschik vor der Öffentlichkeit geheim halten
zu wollen. Dafür spricht nach Auffassung der GfbV auch, dass
der bekannte Journalist Orkhan Jemal von der Zeitung Versija am
Sonntag (16.10.) in Naltschik festgenommen wurde. In einem
Gespräch mit dem unabhängigen Radiosender "Echo Moskwy"
in Polizeigewahrsam sagte er, es habe der Polizei besonders wenig
gefallen, dass er Fragen zu der Identität der Opfer gestellt
habe.
Mehrfach sind inzwischen Vorwürfe laut geworden, die
Behörden hätten nicht unterschieden zwischen den
Angreifern und Zivilisten, die während der Kämpfe in
Naltschik am Donnerstag und Freitag letzte Woche ums Leben
gekommen sind. Felgenhauer beklagt, dass seine Zeitung sich
geweigert habe, seine Kolumne zu veröffentlichen. Darin
kritisiert er das Vorgehen in Naltschik. Eine andere Augenzeugin
konnte der GfbV telefonisch bestätigen, dass es zumindest am
18.Oktober zu so genannten Säuberungen mit Festnahmen in
mehreren Wohnbezirken gekommen ist. Die Menschen wurden
aufgefordert, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, während die
Polizei Hausdurchsuchungen vornahm. Eine Schule wurde für
zehn Tage geschlossen. Offiziellen Angaben zufolge dauert die
Suche nach Terroristen an. Die GfbV warnt vor weiterer
Willkür und einer Eskalation der Gewalt.
Die Bevölkerung der Republik Kabardino-Balkarien umfasste
2002 laut Volkszählung 901.494 Personen: Die fast 500.000
Kabardiner, eine Untergruppe der Tscherkessen, stellen rund 55
Prozent der Bevölkerung, und das Turkvolk der Balkaren
zählt etwas mehr als 100.000 Angehörige. Ein Viertel
der Bevölkerung sind Russen. Kleinere Minderheiten mit
jeweils kaum 10.000 Angehörigen stellen Osseten, Türken
und Ukrainer. Außerdem leben mehr als 5.000 Armenier in der
Kaukasus-Republik. Amtssprachen sind die kabardinische Sprache,
die balkarische Sprache und die russische Sprache. Die Balkaren
waren 1944 von der Roten Armee wegen des Vorwurfs der
Kollaboration mit den Nationalsozialisten in ihrer Gesamtheit
nach Zentralasien deportiert worden. Erst 1957 wurde ihnen nach
ihrer Rehabilitation die Rückkehr erlaubt.