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Sprache: DEU
Von Kamal Sido
Göttingen, Bozen, 15. Februar 2019
Lange Zeit verleumdete die türkische Regierung die Existenz einer kurdischen Sprache und Kultur in der Türkei. Bis heute halten Unterdrückung und Verfolgung an. So gibt es für die etwa 20 Millionen Kurden in der Türkei zum Beispiel keine einzige kurdische Schule.
Kurdische Kinder haben in der Türkei kein Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache. Foto: Kamal Sido / GfbV.
"Sie sind zu fünf Jahren Gefängnisstrafe
verurteilt", erklärte der vorsitzende Richter des 7.
Strafgerichtshofs für schwere Vergehen am 21. November 2018
in der heimlichen Hauptstadt der Kurden Diyarbakir (Kurdisch:
Amed) im Südosten der Türkei. Der türkische
Richter fällt sein Urteil über Ismail Çoban. Der
Kurde wird bereits seit dem Jahr 2016 gefangen gehalten. Vor
seiner Verhaftung war Çoban Chefredakteur der in
Diyarbakir erscheinenden Zeitung "Azadiya Welat" (dt.: Die
Freiheit der Heimat). Die Zeitung ist mittlerweile verboten. Sie
war die einzige kurdisch-sprachige Tageszeitung in der
Türkei.
Die Urteilsbegründung des Gerichts: "Herr Çoban hat
im Jahr 2013 insgesamt 15 Meldungen und Kommentare im Sinne der
PKK veröffentlicht und eine friedliche Lösung der
kurdischen Frage gefordert". Die türkischen Behörden
stufen die PKK als "Terrororganisation" ein. Zum Zeitpunkt der
Berichterstattung führte die türkische Regierung aber
Friedensgespräche sowohl in Oslo mit Vertretern der PKK, als
auch mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan im
türkischen Gefängnis. Über die Willkür der
türkischen Behörden und Justiz gegenüber der
kurdischen Sprache und Kultur berichten internationale Medien
immer wieder. Sie ist bekannt.
Der türkische Soziologe Ismail Besikci zum Beispiel war zu
keinem Zeitpunkt Mitglied irgendeiner politischen Organisation.
Trotzdem musste er immer wieder ins Gefängnis, weil er in
seinen Schriften von der Existenz einer Sprache und einer Ethnie
namens Kurden sprach, die nach türkischem Verständnis
"gar nicht existierte". Besikci wurde in den vergangenen
fünf Jahrzehnten zu insgesamt 100 Jahren Haft und einer
Geldstrafe von zehn Milliarden Lira (rund 1,6 Milliarden Euro)
verurteilt. Acht Mal hat er eine Strafe antreten und deshalb
insgesamt 17 Jahre in türkischen Gefängnissen
verbringen müssen.
Unter dem Druck der kurdischen Proteste in der Türkei
musste die Regierung in Ankara in der Vergangenheit
schließlich eingestehen, dass eine Sprache und Ethnie
namens Kurden auch in der Türkei existiert. Sogar kur-dische
Sendungen im Radio und Fernseher wurden ab 2009 erlaubt. Es war
eine Lockerung der Verleumdungspolitik gegenüber den Kurden.
Im Zusammenhang mit der Lage in Syrien, wo Kurden gemeinsam mit
Assyrern/Aramäern, Christen, Yeziden, Aleviten und anderen
Minderheiten seit 2011 ein autonomes Gebiet zu etablieren
versuchen, beendete Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit
der PKK jedoch.
Seither unterstützt er verstärkt Radikalislamisten in
Syrien und im Irak gegen Kurden und andere Volksgruppen, die sein
islamistisches Projekt nicht unterstützen. Erdogan begann
eine neue Welle von Repressionen gegen die Opposition in der
Türkei. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 versucht
Erdogan, alle seine Kritiker, vor allem Kurden, verhaften zu
lassen und mundtot zu machen. Auch die Kurdische Sprache
rückte wieder ins Visier der türkischen Justiz und
Behörden.
Nach unseren Recherchen gibt es in der Türkei für
die etwa 20 Millionen Kurden immer noch keine einzige Schule -
auch keine private. Vor einigen Jahren wurde den Schülern
der Klassen 5, 6 und 7 jedoch erlaubt, sich für eine der
sogenannten "yasayan diller" (dt.: lebende Sprachen) als
"Wahlfach" zu entscheiden. Der Begriff Kurdisch darf in den
amtlichen Bekanntmachungen weiterhin nicht verwendet werden.
Für das Wahlfach "lebende Sprache" wurden auch
Schulbücher entwickelt.
Ich habe mir diese Bücher angeschaut. Nahezu alle diese
Bücher beginnen mit der türkischen Flagge; mit der
türkischen Hymne; einem Bild von Atatürk, Gründer
der Republik Türkei, und einem Aufruf von ihm an die
"türkische Jugend" (merke: nicht an die Jugend aller Ethnien
in der Türkei). All dies verkörpert die seit
Jahrzehnten andauernde Verfolgung, Vertreibung und
Vernichtungspolitik des türkischen Staates gegen Kurden und
andere Minderheiten wie die Aramäer/Assyrer, Armenier,
Christen, Yeziden oder Aleviten. In jedem Klassenraum müssen
diese vier Elemente aus den Büchern vorhanden sein. Ohne sie
darf keine Schule ihre Arbeit aufnehmen. Das gilt auch für
Privatkurse in Türkisch-Kurdistan.
Ende November 2018 habe ich mit Freunden der Gesellschaft
für bedrohte Völker (GfbV) in den mehrheitlich
kurdischen Gebieten der Türkei Kontakt aufgenommen. Ich
wollte überprüfen, ob an irgendeiner Schule in der
Türkei Kurdischunterricht existiert. Die Antwort war
einstimmig: "Nein, es gibt an keiner Schule muttersprachlichen
Unterricht für Kurden!" Die türkischen Behörden
tun alles dafür, dass sich Schüler nicht für die
kurdische Sprache als Wahlfach entscheiden. Neben Verboten und
Einschüchterungen führen Vertreter des türkischen
Staates, wie Lehrer oder andere Beamte, eine regelrechte
Hasskampagne gegen alles, was kurdisch ist.
Sie behaupten, dass Kurdisch eine primitive Sprache sei und
deswegen weder unterrichtet noch gelernt werden sollte. Darunter
leidet die kurdische Sprache und Literatur. Dieses Verhalten der
türkischen Behörden führt unter anderem dazu, dass
sich kaum Schüler für die kurdische Sprache als
Wahlfach interessieren. Wenn einige Schüler sich auf
Drängen ihrer Eltern oder von sich aus dann doch für
das Erlernen der kurdischen Sprache entscheiden, geben die
Schulleitungen an, dass es keine Lehrer für das Fach
Kurdisch gebe. Nach Informationen der GfbV wurden in den letzten
Jahren aber etwa 1.000 bis 2.000 Lehrer für die kurdische
Sprache an verschiedenen Instituten ausgebildet. Kein einziger
Lehrer wurde jedoch eingestellt.
Einige Institute, die sich um das Kurdische gekümmert haben,
wurden nach dem Putschversuch im Juli 2016 verboten und viele
Mitarbeiter verhaftet. Nach unseren Informationen gibt es nur
noch an drei Universitäten, in Mardin, Bingöl und
Tunceli (Dersim), Fachbereiche für die kurdische Sprache. An
allen drei Universitäten wird der kurdische Dialekt Kurmanci
gelehrt. In Bingöl und in Tunceli wird auch der Dialekt Zaza
angeboten. Auch an den Universitäten werden Professoren und
Studierende eingeschüchtert: Dr. Kadri Yildirim
unterrichtete zum Beispiel einige Zeit an der
Artuklu-Universität in Mardin Kurdisch. 2014 wurde er
zeitweise verhaftet und von der Universität ausgeschlossen.
Im Februar 2015 traf ich ihn in Diyarbakir.
Mit der aggressiven Türkisierung und Islamisierung in der Türkei durch die islamistisch-nationalistische Partei AKP von Präsident Erdogan wird der Druck auf die kurdische Sprache auch in den Moscheen größer. Nicht selten wird in den Kurdengebieten der Türkei die türkische Sprache als die Sprache des Islam bezeichnet. Das Kurdische hingegen sei "keine gleichwertige Sprache". Durch diese islamistischen türkisch-nationalistischen Phantasien werden gläubige Kurden unter Druck gesetzt, ihre Muttersprache nicht zu lernen und von den Forderungen nach einer Gleichberechtigung zwischen dem Türkischen und Kurdischen abzusehen. "Unsere Muttersprache ist unser Dasein und unsere Identität. Sie ist Speicher für unsere Geschichte und Kultur. Wenn unsere Sprache verboten wird oder ausstirbt, verschwinden auch wir", sagen die Kurden.
Aus pogrom-bedrohte Völker 310 (1/2019)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2019/190118de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/181213de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180717de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180705de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180326ade.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180226de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180220de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180212de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180207de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180129de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180123de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2018/180122de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/afrin.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/rojava.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/nordsiria2017.html
in www:
www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2016/Northern-Syria-research-trip-2016.compressed.pdf