Bozen, Göttingen, Pristina, 27. April 2005
Nach der dramatischen Rettung eines
Flüchtlingskindes durch das Kosovo-Team der Gesellschaft
für bedrohte Völker (GfbV) hat die internationale
Menschenrechtsorganisation der UN-Mission im Kosovo UNMIK erneut
"verantwortungslose Vernachlässigung der ihr anvertrauten
Flüchtlinge" vorgeworfen. "Trotz zahlreicher
persönlicher und schriftlicher Warnungen der GfbV, trotz
erschreckender Gutachten und dringender Evakuierungsempfehlungen
medizinischer Experten hat die UNMIK nicht reagiert und direkt
neben giftigen Abraumhalden drei Flüchtlingslager für
rund 500 Roma weiter betrieben", sagte der Präsident der
internationalen Menschenrechtsorganisation, Tilman Zülch, am
Mittwoch in Göttingen. "Schutzlos sind die Menschen den
Umweltgiften seit fünfeinhalb Jahren ausgeliefert, besonders
Kinder leiden unter schwersten Vergiftungserscheinungen."
Der Leiter des GfbV-Kosovo-Teams und Träger des Weimarer
Menschenrechtspreises, Paul Polansky, hatte das zweijährige
Roma- Mädchen Nikolina und seine Mutter vor wenigen Wochen
auf eigene Verantwortung aus dem Lager geholt, ins Krankenhaus
gebracht und eine Behandlung des todkranken Kindes durchgesetzt.
Nach einer stationären Entgiftung lebt Nikolina jetzt bei
ihrem Onkel. Für ihre vier Jahre alte Schwester Jenita war
der Versuch einer Entgiftung zu spät gekommen. Sie starb im
Sommer 2004 an Bleivergiftung zwei Monate nach einem
Klinikaufenthalt. Alarmierenden medizinischen Gutachten zufolge
haben die etwa 60 Roma- Kinder, die in den drei 1999 errichteten
Lagern Cesmin Lug, Kablare und Zitkovac geboren wurden, aufgrund
der hohen Bleikonzentration in ihrem Blut nur wenig
Überlebenschancen. Schon jetzt ist ihr Nervensystem
dauerhaft geschädigt. Viele von ihnen zeigen deutliche
Symptome einer Bleivergiftung: Gedächtnisverlust,
Koordinierungsschwierigkeiten, Erbrechen, Krampfanfälle und
komatöse Zustände. Rokho Kim, Experte für
Bleivergiftung am Europäischen Zentrum für Umwelt und
Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation WHO in Bonn
erklärte bei einem Besuch der Lager im Februar 2005, die
Umgebung sei drei- bis viermal so stark verseucht wie die
gefährlichste Giftmülldeponie der USA in Tar Creek,
Oklahoma.
Schon während der Errichtung des Lagers hatte die GfbV vor
den gefährlichen Umweltgiften gewarnt. Doch die UNMIK hatte
die Bauarbeiten fortsetzen lassen mit der Begründung, die
Lager würden nur 45 Tage lang gebraucht. Nach Bluttests
hatte der medizinische Gutachter bei den Vereinten Nationen, Dr.
Andrej Andrejev, im Jahr 2000 der WHO und UNMIK die sofortige
Evakuierung der Lager empfohlen. Daraufhin wurden Offiziere der
internationalen Polizei, die täglich in der Nähe des
Lagers Cesmin Lug joggten, getestet. Ihr Blut wies eine so hohe
Bleikonzentration auf, dass die Männer sofort nach Hause
geschickt wurden. Doch für die Flüchtlinge unternahm
die UNMIK nichts. 2004 führte die WHO wieder Tests in den
Lagern durch. Bei 44 von 75 Personen - vor allem Kinder und
Schwangere - wurden 65 Mikrogramm Blei pro Deziliter Blut
gemessen. Das war die höchste Konzentration, die das
Messgerät anzeigen konnte.
Die meisten der bis heute in den drei Lagern untergebrachten
Roma stammen aus Süd-Mitrovica, der mit etwa 8.000 Bewohnern
ehemals größten Roma-Siedlung des Kosovo. Sie waren im
Juni 1999 kurz nach dem Einmarsch der Nato von extremistischen
Albanern vertrieben und ihre Häuser niedergebrannt worden.
130.000 von 150.000 Roma und Aschkali wurden durch Morde,
Vergewaltigungen, Entführungen, Folterungen und bis heute
anhaltende rassistische Verfolgung aus dem Land getrieben.
Während zehntausende Häuser der Albaner wieder
aufgebaut wurden, haben die Truppen von NATO und KFOR zugesehen,
wie 14.000 der 19.000 Häuser der Roma und
Aschkali-Minderheiten und 75 ihrer Stadtteile und Dörfer
zerstört wurden. Die internationale Gemeinschaft hat bisher
lediglich 200 ihrer Häuser wieder aufgebaut.
Trotz der täglichen Berichterstattung vor allem deutscher
Medien über die Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten
im Dritten Reich, unter ihnen Sinti und Roma, findet die
Massenvertreibung der Roma und Aschkali aus dem Kosovo und das
Schicksal der Zurückgebliebenen in der Öffentlichkeit
bisher wenig Aufmerksamkeit. Wir übersenden Ihnen gern Fotos
der betroffenen Roma-Flüchtlinge per E-Mail. In der
International Herald Tribune erschien jetzt ein erster Bericht
über die Vergiftungen.
Siehe das Memorandum of the Society for Threatened People onthe Issue of Lead Poisoning of Roma in IDP Camps in Kosovo [Englisch].