Bozen, Göttingen, 24. Februar 2006
Anlässlich des Beginns der Verhandlungen zur Klage
Bosnien und Herzegowinas gegen Serbien-Montenegro am 27. Februar
2006 findet am gleichen Tag eine Mahnwache der Gesellschaft
für bedrohte Völker (GfbV) statt, um an die Schrecken
des Bosnien-Kriegs und an Europas schändliche
Untätigkeit zu erinnern. Am kommenden Montag beginnt vor dem
Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag die Anhörung
zur Klage der Republik Bosnien und Herzegowina gegen
Serbien-Montenegro wegen Aggression und Völkermord. Die
Klage wurde 1993 von dem amerikanischen Rechtsanwalt Francis A.
Boyle im Namen des damaligen multiethnischen Präsidiums
Bosnien-Herzegowinas eingereicht. Diesem Präsidium
gehörten damals die kroatischen Bosnier Stjepan Kljuic und
Ivo Komsic, der serbische Bosnier Mirko Pejanovic, Vorsitzender
des serbischen Bürgerrates und später Träger des
Alternativen Nobelpreises, die serbische Bosnierin Tatjana
Ljuic-Mijatovic und die muslimischen Bosnier Nijaz Durakovic und
Alija Izetbegovic an. Die Anhörung wird bis zum 09. Mai 2006
andauern.
Hunderte Überlebende des bosnischen Genozids, darunter 50
Frauen als Vertreterinnen von neun Verbänden der
Angehörigen der Ermordeten aus Srebrenica und dem Drina-Tal,
zahlreiche Häftlinge der ehemaligen serbischen
Konzentrations- und Internierungslager sowie Überlebende der
Bombardements bosnischer Städte, der Deportationen und
"ethnischen Säuberungen" werden aus diesem Anlass an einer
Mahnwache der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
vor dem ICJ teilnehmen und an die Massenmorde, die während
des bosnischen Krieges (1992-1995) stattfanden, erinnern. Etwa
200 000 Menschen kamen damals ums Leben.
Während der Mahnwache werden ein 60m langes Transparent mit
den Namen von 8106 Opfern des Massenmordes in Srebrenica sowie
drei weitere Transparente mit den Namen von 16
Vergewaltigungslagern, 60 Konzentrations- und Internierungslagern
sowie 324 bisher entdeckten Massengräbern präsentiert.
Anschließend werden die Namen der Opfer verlesen.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Die Frauen
Die 50 Frauen repräsentieren folgende Verbände:
Bewegung der Mütter aus den Enklaven Srebrenica und Zepa,
Verband der weiblichen Lagerinsassen Sarajevo, Srebrenica
Mütter (Sitz: Srebrenica), Die Frauen aus Srebrenica in
Tuzla, Die Mütter aus Srebrenica und dem Drina-Tal (Sitz:
Sarajevo), Vereinigung der Frauen aus dem Drina-Tal (Sitz:
Sarajevo und Drina-Städte), Verein der Familien der
Vermissten aus Srebrenica (Sitz: Srebrenik), ,Opfer des Krieges'
der Vergewaltigungslager in Foca, Visegrad, Srebrenica-Frauen
Berlin, Überlebende der Konzentrationslager, Berlin.
Europas Schande
Die GfbV International erinnert mit dieser Mahnwache auch an die
Schande Europas, das dem ersten Völkermord auf
europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg vier Jahre
lang tatenlos zugesehen hat trotz der weltweiten Warnungen,
Appelle, Proteste und Aktionen einiger weniger
Menschenrechtsorganisationen, und vieler herausragender
Persönlichkeiten wie: Roy Gutmann, Susan Sonntag, Cherif
Bassiouni, Simon Wiesenthal, Marek Edelman, Elie Wiesel ,
André Glucksmann, Freimut Duve, Daniel Cohn-Bendit ,
Christian Schwarz-Schilling, Stephan Schwarz, Otto von Habsburg,
Alain Finkielkraut, Tadeusz Mazowiecki, Simone Veil, Marie-Louise
Beck. Vaclav Havel, Henry Levy, Vytautas Landsbergis, Rita
Süssmuth, Tan Sri Ghazali Shafi sowie viele
Nichtregierungsorganisationen, etwa der American Jewish Congress,
die Society for Threatened Peoples International/Gesellschaft
für bedrohte Völker International und Human Rights
Watch.
Der Genozid
Nachdem vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag seit 1993 Prozesse wegen Kriegsverbrechen an bosnischen
Zivilisten geführt werden, soll jetzt das Belgrader Regime
des Slobodan Milosevic für die dreijährige Aggression
gegen Bosnien-Herzegowina (1992-1995) und den Genozid zur
Verantwortung gezogen werden.
Es ist ein historisches Ereignis, dass zum ersten Mal in seiner
Geschichte der Internationale Gerichtshof die Klage eines Staates
(Bosnien und Herzegowina) gegen einen anderen
(Serbien-Montenegro) wegen der Verletzung der Konvention
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
vom 9. Dezember 1948 verhandeln wird. Das Internationale
Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat bereits den serbischen
General Radislav Krstic wegen seiner Mittäterschaft im
Genozid zu 35 Jahren Haft verurteilt. Im Juli 1995 erhob das
Haager Tribunal Anklage wegen Völkermordes und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit gegen den bosnischen Serbenführer
Radovan Karadzic und seinen General, den damaligen
Oberbefehlshaber der bosnisch- serbischen Armee, Ratko Mladic.
Dank einer Initiative der GfbV wurden in der Bundesrepublik
Deutschland zwei serbische Kriegsverbrecher wegen Genozids
verurteilt.
Das serbische Regime hat durch die Völkermord- und
Kriegsverbrechen einen international anerkannten und
souveränen Staat zerstört und nach den
Massenvertreibungen auf der Hälfte des Territoriums die so
genannte Republika Srpska errichtet, die bis heute unter dem
Einfluss der Kriegspartei Karadzics steht. Mehr als 90 Prozent
der bosnischen Opfer waren bosnische Muslime/Bosniaken. Das
Regime von Slobodan Milosevic war gemeinsam mit den
Streitkräften der bosnischen Serben unter dem Kommando von
Mladic und Karadzic und vielen paramilitärischen Einheiten
verantwortlich für die Errichtung von über hundert
Internierungs- und Konzentrationslagern, in denen mehr als 200
000 bosnische Zivilisten inhaftiert waren und in denen über
20 000 Häftlinge ums Leben kamen. Zu den berüchtigten
Konzentrationslagern gehörten Omarska, Manjaca, Keraterm,
Trnopolje, Luka Brcko, Susica und Foca.
Bis zu 30 000 bosnische Frauen wurden systematisch vergewaltigt,
unter anderem in den Vergewaltigungslagern von Visegrad und Foca.
Etwa 2,2 Millionen bosnische Kinder, Frauen und Männer
wurden als Vertriebene und Flüchtlinge Opfer ethnischer
Säuberungen und mussten ihre Heimat verlassen.
Hunderttausende wurden über vier Erdteile zerstreut und
können bis heute nicht in ihre Heimatorte zurückkehren.
Bosnische Städte wurden über Monate oder Jahre
eingekesselt, ausgehungert und täglich beschossen, so auch
die Städte Bihac, Sarajevo, Gorazde, Srebrenica, Cerska und
Zepa. Allein in Sarajevo sollen etwa 11 500 Menschen, unter ihnen
1500 Kinder umgekommen sein. Einer der Befehlshaber der
Verteidiger Sarajevos war der bekannte serbische General Jovan
Divjak. Der große serbische Architekt Bogdan Bogdanovic hat
die systemische Zerstörung von Sarajevo und anderen
Städten als barbarischen Kampf gegen die städtische
Kultur überhaupt verurteilt. In unzähligen Dörfern
und Städten Nord-, West- und Ostbosniens fanden Massaker
statt. In verschiedenen Städten, zum Beispiel in Prijedor,
Zvornik und Foca wurden die Angehörigen der politischen und
akademischen Eliten liquidiert. Bisher wurden 324
Massengräber exhumiert. Allein in Srebrenica wurden
über 8 106 Knaben und Männer ermordet. Die Stadt
Prijedor in Westbosnien beklagt 3224 Ermordete.
Hunderte Dörfer und Stadtteile wurden systematisch
zerstört. In den serbisch besetzten Regionen wurden 1186
Moscheen und Medresen sowie andere Mahnmäler osmanischen
oder islamischen Ursprungs zerstört. Dazu kommen über
500 zerstörte katholische Kirchen und Gemeindehäuser.
Planmäßig wurden vielerorts Lieferungen
humanitärer Hilfe verhindert. Zwar waren 90 Prozent der
zivilen bosnischen Opfer muslimische Bosniaken, aber auch die
serbischen Bosnier wurden zu Opfern des Krieges. Tausende junge
Männer desertierten, um nicht mitschuldig zu werden. Manche
stellten sich den Karadzic-Truppen entgegen und bezahlten mit
ihrem Leben. Nicht wenige unterstützten ihre muslimischen
Nachbarn oder versteckten sie. Andere teilten das Schicksal von
Flucht, Vertreibung und Exil mit ihren nichtserbischen Verwandten
oder harrten in Sarajevo aus.