Bozen, Göttingen, 21. August 2006
"Die im Zentrum der Anklage stehende Operation "Anfal", macht nur einen Teil des Völkermordverbrechens an den Kurden, kurdischsprachigen Yeziden, Assyro-Chaldäern und Turkmenen des Nord- Irak / Kurdistan aus" sagte der Generalsekretär der GfbV, Tilman Zülch. Ist Saddam Hussein für die Vernichtung einer halben Million Kurden verantwortlich? Zum Auftakt des neuen Prozesses des Sondertribunals in Bagdad gegen Iraks Diktator Saddam Hussein erinnert die Gesellschaft für bedrohte Völker daran, dass der Völkermord an den Kurden einschließlich der mit ihnen lebenden kurdischen Yeziden, christlichen Assyro-Chaldäer und Turkmenen, 1968 von Saddam Hussein begonnen wurde und mit immer neuen Verbrechen bis zu seiner Entmachtung 2003 andauerte. Formal war General Ahmed Hassan Al Bakr bis 1979 Staatschef im Irak, Saddam Hussein bereits aber der starke Mann des Regimes. "Nach unseren Schätzungen könnten in den 35 Jahren der Herrschaft Saddam Husseins bis zu 500 000 Menschen im Nord-Irak umgekommen sein", erklärte der Generalsekretär der deutschen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Tilman Zülch, dazu heute in Göttingen.
1. Die Anfal-Offensive
Verhandelt werden soll in Bagdad ab dem heutigen Montag die so
genannte "Anfal-Offensive", das Verbrechen an den irakischen
Kurden mit den höchsten Opferzahlen, das von März 1987
bis September 1988 andauerte. Die Giftgasangriffe auf kurdische
Dörfer und auf die Stadt Halabja wurden von
Massendeportationen, der Zerstörung von 4000 Dörfern
und von Massenerschießungen begleitet. Nach heutigen
Schätzungen seriöser kurdischer Institutionen im
Nord-Irak sollen 182.000 Menschen während der
Anfal-Offensive und an ihren Folgen ums Leben gekommen sein.
Westliche Menschenrechtsorganisationen waren früher von bis
zu 100.000 Opfern ausgegangen, der britische Nahost-Experte Prof.
David Mc Dowall von 150.000 Opfern.
Mit Saddam Hussein sind angeklagt: der Organisator der Operation
"Anfal" Ali Hassan Madschid, seither auch "Chemie-Ali" genannt,
der damalige Verteidigungsminister Sultan Haschim Ahmad,
Ex-Geheimdienstchef Saber Abdul Asis al-Duri, ein ehemaliger
Befehlshaber der republikanischen Garde, Hussein al-Tikriti, der
frühere Militärkommandeur Farhan Mutlak al- Dschuburi
und der Ex-Gouverneur der Provinz Ninive, Taher Tafwik al-Ani. Im
März 1987 wurde "Chemi-Ali" Generalsekretär des
Büros der Organisation der Baath-Partei in Nordirak.
Unmittelbar Danach begann der Vernichtungsfeldzug des irakischen
Regimes gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Unter seinem
Kommando wurde zum ersten Mal Giftgas gegen eine Volksgruppe
innerhalb des Irak eingesetzt. Durch Vernichtung
größerer Teile der kurdischen Bevölkerung sollte
der Widerstand der kurdischen Befreiungsbewegung endgültig
gebrochen werden. Chemie-Ali wurde 1990 nach der Eroberung
Kuwaits durch Saddam dort dessen Gouverneur und war danach
für unzählige Morde an Kuwaitis verantwortlich.
Unter dem Kodenamen "Anfal" hat die irakische Armee seit dem
April 1987 bis 1988 mehr als vierzig Giftgasangriffe auf
kurdische Ortschaften durchgeführt. Die irakische Armee
erhielt Anweisungen die Kurden in ausgewählten Teilen der
Provinzen Arbil, Dohuk, Suleymania, Kirkuk und Mosul zu
deportieren oder zu vernichten. Jede Person zwischen 14 und 70
Jahre, die in den für verboten erklärten Zonen
aufgegriffen wurden, sollten umgehend liquidiert werden.
Deutschsprachige Medien hatten bereits im Frühjahr 1987
Berichte der GfbV über Giftgasangriffe auf kurdische und
assyro-chaldäische Dörfer publiziert. Erst der
Giftgas-Angriff auf die kurdische Stadt Halabja jedoch
führte zu weltweiter Aufmerksamkeit und Empörung.
Allein in dieser Stadt der Provinz Suleymania starben 5000
Kinder, Frauen und Männer bei dem Bombardement. In
Deutschland protestierten zur gleichen Zeit Friedens- und
Umweltbewegte gegen Chemiewaffen, allerdings gegen jene der
Amerikaner in der Pfalz, die erfreulicher Weise nicht eingesetzt
wurden, während die Dank deutscher Firmen aufgebauten
Giftgaswaffensysteme zwei Jahre lang zur Vernichtung der Kurden
eingesetzt wurden.
In der Regel verlief die "Anfalloperation" stets nach dem
gleichen Muster: Zuerst Luftangriffe auf die Dörfer und
anschließend Einmarsch der irakischen Infanterie, die meist
Verletzte sowie Männer und Kinder liquidierte und Frauen
vergewaltigte. Die Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht,
Gärten und Felder wurden verbrannt. Zehntausende von
Männern zwischen 14 und 50 Jahren wurden in
Übergangslager verschleppt, oft in Wüstenregionen
abtransportiert und häufig getötet. Überlebende
wurden in neu gebauten Massensiedlungen kaserniert. Sie durften
diese Camps bis 1991 nach der Befreiung durch kurdische Truppen
nicht verlassen. Die Zahl der so genannten Anfal-Frauen,
Alleinstehende, Hinterbliebene, deren Männer, Söhne und
Brüder, häufig sogar die gesamte Verwandtschaft
während der Anfal-Offensive getötet oder verschleppt
und verschwunden sind, wird heute auf rund 50.000 geschätzt.
Als kurdische Unterhändler im Sommer 1991 in Bagdad die
irakischen Gesprächspartner über den Verbleib der
verschleppten Kurden befragten, antwortete der anwesende Al-Majid
darauf: "Es können nicht mehr als 100.000 gewesen sein, die
während Anfal-Operation getötet worden sind".
2. Die Massaker in den 1960-ger und 1970-ger
Jahren
Immer wieder hat die GfbV - wie auch andere
Menschenrechtsorganisationen - über Pogrome und Massaker in
jenen Jahren berichtet. Nur eines sei hier genannt: 55 Einwohner
des assyro- chaldäischen Dorfes Sorija, zwischen Zakho und
Dohuk gelegen, waren 1969 vor nahenden irakischen Truppen in eine
Höhle geflüchtet. 38 von ihnen, Kinder, Frauen und
Männer, verbrannten dort. 31 überlebten dieses Massaker
verletzt.
3. Massenflucht und Vertreibung 1975
Nach dem Zusammenbruch der kurdischen Widerstandsbewegung unter
Mustafa Barzani, nach der Vermittlung eines in Algerien
unterzeichneten Abkommens, das 1975 zwischen dem irakischen
Regime und dem Schah von Persien durch den amerikanischen
Außenminister Henry Kissinger vermittelt worden war,
mussten 250.000 Kurden in den Iran flüchten. 500.000 Kurden
wurden 1975 - 1978 aus ihren Dörfern vertrieben. 14.000
kurdische Widerstandskämpfer landeten in
Konzentrationslagern. Man muss davon ausgehen, dass in dieser
Zeit mehrere Zehntausend Kurden während der Flucht,
Vertreibung oder Inhaftierung umgekommen sind.
4. Das Verschwinden der Faili-Kurden
1980
Im Jahre 1980 deportierte das Saddam Hussein Regime 10.000 junge
männliche Faili-Kurden aus Bagdad, sowie aus ihrer
Heimatregion um die Städte Kanaquin und Mandali im
südlichsten irakischen Kurden-Gebiet an der iranischen
Grenze. Diese shiitische kurdischsprachige Bevölkerung wird
auf der iranischen Seite ihres Siedlungsgebiets auch als so
genannte Kleinluren bezeichnet. Das Verbleiben dieser
deportierten Menschen ist bis heute unbekannt. Man geht davon
aus, dass sie exekutiert wurden.
5. Zwölf Jahre vor Srebrenica: Die Vernichtung
von 8000 Angehörigen des Barzani-Stammes im Jahre
1983
Im Jahre 1983 trieben irakische Regierungstruppen 8000 Knaben
und Männer des Barzani-Stammes aus der Barzan-Region, unter
ihnen auch assyro-chaldäische Christen, zusammen und
deportierten sie. Inzwischen hat man erste Massengräber
exhumiert und man geht davon aus, dass diese 8000 Opfer in
Konzentrationslagern im Süden des Irak inhaftiert waren und
dann exekutiert und in Massengräbern verschart wurden.
6. 1985: 300 kurdische Kinder inhaftiert, gefoltert
und ermordet
300 im Jahre 1985 inhaftierte kurdische Kinder und Jugendliche
gelten als verschwunden. 1987 stellte amnesty international fest:
Viele der Jugendlichen seien geschlagen, sexuell missbraucht und
mit Elektroschocks gefoltert worden. Über 29 Hinrichtungen
erhielt man direkte Informationen. Verschiedene der Ermordeten
mussten von ihren Eltern gegen Gebühr abgeholt werden.
7. 1991: Massenflucht und Verfolgung von zwei
Millionen Kurden
Nachdem von Präsident George Bush sen. initiierten
Kurden-Aufstand schlug die irakische Armee zurück und trieb
bis zu zwei Millionen Kurden in die türkischen und
iranischen Grenzgebiete. Die genaue Zahl der Menschen, die die
Strapazen dieser Flucht in zum Teil 2000 m hohe schneebedeckte
Bergregionen im März/April 1991 nicht überlebt haben,
ist nicht bekannt. Sie könnte Zehntausende erreicht haben.
So fanden damals Mitarbeiter der GfbV auf 2000 m Höhe ein
noch nicht von Hilfsorganisationen erreichtes Lager mit 50.000
Flüchtlingen an. Das Sterben der Kinder und Alten dort hatte
bereits begonnen. Das GfbV-Team konnte schnell Medikamente und
humanitäre Hilfe für zwei Wochen organisieren, die aber
für sehr viele schon zu spät kamen. Niemand kennt die
genaue Zahl der von den vorrückenden irakischen Truppen
Ermordeten, der Verluste, der in die unwirtlichsten Gegenden
Geflüchteten oder Vertriebenen. Auch hier wird es sich um
zehntausende Opfer gehandelt haben.