Bozen, Göttingen, 12. Dezember 2007
Die Gesellschaft für bedrohte
Völker (GfbV) hat vor einer Islamisierung der Justiz in
Afghanistan gewarnt, die die Pressefreiheit und die
Demokratisierung des Landes gefährde. "Im Namen des Islam
werden Journalisten für Delikte mit der Todesstrafe bedroht,
die in Rechtsstaaten noch nicht einmal mit Haftstrafen geahndet
werden", berichtete der GfbV-Asienreferent Ulrich Delius am
Mittwoch. Innerhalb von nur einem Monat drohe nun schon zum
zweiten Mal die Verhängung von Todesurteilen gegen
regime-kritische Journalisten. Der jüngste Fall in der
nordafghanischen Stadt Mazar-e-Sharif wiege besonders schwer.
Dort werde ein Familienangehöriger des angesehenen
Journalisten Sayed Yaqub Ibrahimi mit dem Tod bedroht, weil der
Reporter Menschenrechtsverletzungen von Warlords öffentlich
kritisiert hatte.
Ibrahimi, der für das Institute for War and Peace Reporting
(IWPR) als Korrespondent aus
Nordafghanistan berichtet, wurde nach mehreren kritischen
Reportagen über Warlords vom Geheimdienst verhört und
mit dem Tode bedroht. Als man ihm keine Straftaten nachweisen
konnte, wurde sein Bruder, der Journalistikstudent Sayed Parwez
Kaambakhsh, am 27. Oktober 2007 unter einem Vorwand festgenommen.
Ihm droht die Todesstrafe, weil er der Verbreitung
anti-islamischer Schriften beschuldigt wird. Der Student beteuert
seine Unschuld, da der aus dem Internet heruntergeladene Text
erst im Nachhinein mit seinem Namen versehen wurde. Statt den
Prozess vor einem ordentlichen Gericht zu verhandeln, wurde das
Verfahren an den Rat der Religionsgelehrten der Provinz
überstellt. Dort droht ihm wegen Gotteslästerung der
Tod durch Erhängen.
In einem weiteren Verfahren droht drei Personen, unter ihnen dem
bekannten Journalisten Ghaws Zalmai, die Todesstrafe, weil sie
den Koran in die Landessprache Dari übertragen haben. Ein
vierter Beteiligter wurde bereits gehängt. Diese Hinrichtung
war am 19. November in dem unabhängigen afghanischen
Fernsehsender Aryana TV zu sehen, nachdem mehr als 1000 Studenten
am 11. November für die Hinrichtung der vier Personen
demonstriert hatten. Die Übersetzung des Koran ist im
muslimischen Glauben nicht gestattet, da sie auch als
Interpretation der ursprünglichen Version gilt.
Zalmai, der bis vor kurzem in Großbritannien im Exil
lebte, arbeitete zuletzt als Sprecher des Generalstaatsanwalts.
Er bereitete die Verbreitung von 6.000 Exemplaren der
Koran-Übersetzung mit vor. "Zwar stieß die
Übersetzung unter muslimischen Schriftgelehrten auf breite
Ablehnung, doch die Todesstrafe gegen die vier Beteiligten zu
verhängen wäre unverhältnismäßig und
würde dem Ansehen Afghanistans schaden", hieß es in
einem Schreiben der GfbV an den afghanischen Präsident Hamid
Karsai. Hoffnung auf ein faires Gerichtsverfahren besteht nach
GfbV-Einschätzung nicht, weil nach der Ernennung des
radikal-islamischen Scheichs Haji Faizal Shinwari zum Obersten
Richter im Jahr 2002 mehr als 300 seiner Gefolgsleute zu Richtern
ernannt wurden. Willkür und Korruption sind in der
afghanischen Justiz verbreitet.