In: Home > DOSSIER > Tagung "Die Türkei und die EU: Wohin mit dem ungelösten Kurdenproblem?"
Sprache: DEU
Von Thomas Benedikter
Göttingen, Bozen, 6. März 2010
Index
1. Europa - Die Wiege der modernen
Territorialautonomie | 2. Europas autonome
Regionen | 3. Was leistet
Territorialautonomie? | 4. Welche Lehren aus
den Erfahrungen mit Territorialautonomie? | 5.
Eine Autonomie-Lösung für
Türkisch-Kurdistan?
Thomas Benedikter, Prof. Mönch, Maria Sido (GfbV), Kamal Sido (GfbV), Ellen Madeker (EU-Kommission), Cane (kurdische Sängerin), Dehnert (Naumann Stiftung Istanbul), Yusuf Polat (GfbV).
Moderne politische Autonomie gibt es erst seit knapp 90 Jahren. "Modern" deshalb, weil echte Autonomie untrennbar mit Demokratie verbunden ist und vorherige, also vormoderne Formen von regionaler Selbstregierung, nicht in den Rahmen eines Rechtsstaats mit parlamentarischer Demokratie eingebettet waren. Die Wiege dieser Art regionaler Autonomie steht in Europa. 1921 ist in Finnland unter der Obhut des Völkerbunds für die schwedische Bevölkerung der Åland Inseln die erste moderne Territorialautonomie entstanden. Seitdem sind, vor allem seit 1945, in allen Kontinenten gut 60 Regionalautonomien eingerichtet worden, die meisten in Europa, nämlich gut 40. Anlass für die Gewährung dieser Art von "innerer Selbstbestimmung" war in den meisten Fällen der Konflikt eines Staats mit einer nationalen Minderheit oder einem kleineren Volk. In den meisten Fällen wurde die Autonomie auch nicht geschenkt, sondern nach langen politischen und z.T. militärischen Auseinandersetzungen erkämpft, wie z.B. in Nordirland und dem Baskenland, in der Atlantikküste Nicaraguas, im Bodoland in Indien, in Aceh in Indonesien, Bougainville in Papua-Neuguinea und Muslimisch-Mindanao auf den Philippinen. Mit der Gewährung von Autonomie konnten zahlreiche derartige Konflikte nachhaltig gelöst und eine neue Partnerschaft zwischen Zentralstaat und Regionen aufgebaut werden. In einigen Fällen wurde Regionalautonomie von Zentralstaaten auch wieder abgeschafft, was militärische Konflikte bzw. Sezessionskriege ausgelöst hat, wie etwa in Eritrea, Kosovo, Indisch-Kaschmir, Irakisch-Kurdistan, Südossetien und Abchasien.
Worin besteht eigentlich Regionalautonomie und welche Kriterien muss eine solche Form der Selbstregierung einer Region erfüllen, um als moderne Regionalautonomie betrachtet werden zu können? Derzeit schmücken sich manche Regionen der Welt mit dem Etikett "autonom", erfüllen diesen Anspruch in der Praxis aber nicht. Andere Regionen genießen eindeutig Autonomie, vermeiden jedoch bewusst diese Bezeichnung (Z.B. die Niederländischen Antillen.). Um Territorialautonomie von anderen Formen vertikaler Machtteilung abzugrenzen, sind die Voraussetzungen festzulegen, ohne die es keine echte Autonomie geben kann. Demnach müssen wissenschaftlich fundierte Kriterien ausgewählt werden, die ein modernes Autonomiesystem unbedingt erfüllen muss. Was ist Regionalautonomie?
"Regionalautonomie ist eine Form vertikaler Gewaltenteilung, die einen bestimmten Umfang legislativer und exekutiver Kompetenzen des Staats an einen Teil des Staatsgebiets überträgt und damit der Bevölkerung dieses Teils des Staatsgebiets ein bestimmtes Ausmaß politischer Eigenständigkeit ermöglicht. Sie ist eine Form staatlicher Organisation, die in der Regel den Rahmen für die Wahrung und Entfaltung von ethnischen, kulturellen und sprachlichen Gruppen bildet, die sich von der Titularnation des Staats unterscheiden, ohne die Staatsgrenzen zu verändern."
Kurz gesagt: Regionalautonomie bedeutet die Ausstattung einer Region oder mehreren Regionen mit frei gewählten Organen mit Gesetzgebungshoheit und Selbstregierungskompetenzen. Sie wird im Normalfall in Einheitsstaaten oder auch Regionalstaaten nur einzelnen Regionen aus besonderen Gründen zuerkannt, in Sonderfällen auch in Bundesstaaten besonderen Einheiten und in einem Ausnahmefall, nämlich Spanien, allen Regionen, die dort Autonome Gemeinschaften heißen. Um festzuhalten, welche Regionen im staatsrechtlichen Sinn als autonome Regionen einzustufen sind, müssen folgende wesentlichen Voraussetzungen erfüllt sein:
Bei Anwendung dieser Voraussetzungen ist eine eindeutige Zuordnung der (europaweit) bestehenden Regionalautonomien möglich. Regionalautonomie in diesem Sinn, also unter Erfüllung der genannten vier Grundkriterien, besteht in Europa Anfang 2010 in 12 Staaten mit 42 einzelnen Regionen (im Oktober 2010 werden die niederländischen Antillen einen anderen Status erhalten, dann sind es nur mehr 11 Staate). In verschiedenen Fällen befindet sich die politische Situation im Fluss. So könnte etwa die Zuerkennung von legislativen Befugnissen an die Regionalversammlung von Korsika dieser Insel Autonomie verschaffen, wie sie andere "Überseeländer" (Pays d'outre mer) Frankreichs, nämlich Neukaledonien und Französisch-Polynesien, schon haben. Transnistrien könnte von der de-facto-Republik zur autonomen Region Moldawiens nach dem Muster Gagausiens werden. Andererseits könnte Neukaledonien das von Frankreich mit dem Vertrag von Nouméa 1998 eingeräumte und ab 2014 ausübbare Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen und sich per Volksentscheid zum unabhängigen Staat erklären. Auch Grönland will bis 2021 die Unabhängigkeit erreichen.
All diese bisher aufgezählten autonomen Regionen erfüllen die zentralen Kriterien einer Territorialautonomie, verfügen also über demokratisch gewählte, von der Zentralregierung unabhängige Regionalversammlungen und Regionalregierungen, über ausreichend legislative Befugnisse zur Regelung zentraler Politikfelder der Region und über eine demokratisch gewählte Vertretung der regionalen Gemeinschaft auf zentraler (nationaler) Ebene. Nicht alle autonomen Regionen europäischer Staaten sind allerdings auch geographisch Teil Europas.
Staat | Autonome Regionen/Einheiten | Hauptstadt | Bevölkerung |
---|---|---|---|
- | |||
Sektion A: Autonome Regionen, die politisch und geographisch zu Europa gehören | |||
1. Italien | Sizilien Sardinien Friaul-Julisch Venetien Trentino-Südtirol Aostatal |
Palermo Cagliari Triest Trient Aosta |
5.031.081 1.650.052 1.204.718 974.613 122.868 |
2. Spanien (1) | Andalusien Katalonien Madrid Valencia Galizien Kastilien-Leon Baskenland Kanarische Inseln Castile-La Mancha Murcia Aragon Extremadura Asturias Balearen Navarra Cantabrien La Rioja |
Sevilla Barcelona Madrid Valencia Santiago de C. Valladolid Vitoria/Gasteiz Las Palmas Toledo Murcia Zaragoza Mérida Oviedo Palma de Mallorca Pamplona Santander Logrono |
7.849.799 6.995.206 5.964.143 4.692.449 2.762.198 2.510.849 2.125.000 1.968.280 1.894.667 1.335.792 1.269.027 1.083.897 1.076.635 983.131 593.472 562.309 301.084 |
3. Großbritannien (2) | Schottland Wales Nordirland Isle of Man Guernsey Jersey |
Edinburgh Cardiff Belfast Douglas Port Saint Peter Port Helier |
5.094.800 2.958.600 1.710.300 80.058 65.573 91.626 |
4. Finnland | Åland Inseln | Mariehamn | 26.711 |
5a. Dänemark | Faröer | Torshavn | 44.228 |
6. Belgien | Deutsche Gemeinschaft | Eupen | 74.000 |
7. Portugal | Azoren Madeira |
Ponta Delgada Funchal |
253.000 265.000 |
8. Ukraine | Krim | Sinferopol | 2.000.192 |
9. Moldawien | Gagausien | Comrat | 171.500 |
10. Serbien | Vojvodina | Novi Sad | 2.030.000 |
Sektion B: Autonome Regionen, die politisch, aber nicht geographisch zu Europa gehören | |||
11. Frankreich (3) | Neukaledonien Französisch-Polynesien |
Nouméa Papeete |
230.789 264.736 |
12. Die Niederlande | Niederländische Antillen Aruba |
Willemstad Oranjestad |
220.000 102.000 |
5b. Dänemark | Grönland | Nuuk | 56.375 |
Noten:
1. Spanien hat neben den 17 "Autonomen Gemeinschaften" auch zwei
autonome Städte: Ceuta und Melilla. Vgl. Xabier Arzoz,
Spanien - die geschichtlichen Autonomien der Basken, Galizier und
Katalanen als Beispiel eines multinationalen
"Quasi-Föderalismus", in Pan/Pfeil, Zur Entstehung des
modernen Minderheitenschutzes in Europa, Handbuch der europ.
Volksgruppen, Band 3, Wien New York 2006, S. S.363-385.
2. Die "Crown dependencies" der Kanalinseln und der Insel Man
(unmittelbar mit der Krone verbundene Gebiete mit
Selbstverwaltung) fallen nicht unter die Kategorie
"Regionalautonomie" ebenso wenig wie die "abhängigen
Gebiete" (vgl.
http://en.wikipedia.org/List_of_dependent_territories.)
3. Frankreichs "Collectivité d'Outre-Mer" wie z.B. Saint
Pierre und Miquelon, Wallis und Futuna, Mayotte fallen nicht
unter die Kategorie "Regionalautonomie", wohl aber die
verfassungsrechtliche Kategorie des "Pays d'outre-mer" (POM,
Überseeland). In diesen beiden Fällen ist der
französische Staat nur mehr für die Außenpolitik,
Justiz, Verteidigung, innere Sicherheit, Geldpolitik
zuständig.
Hier sollen nur einige wenige, für eine Konfliktlösung mit Hilfe von Autonomie in Türkisch-Kurdistan relevante Beispiele von Autonomie angesprochen werden. Das bedeutet, dass wir bei der Analyse historischer Erfahrungen mit Autonomie nicht so sehr von den vorbildlichen Autonomien der kleinen und großen Inseln der skandinavischen Staaten ausgehen können oder von Portugal, Niederlande und Belgien, sondern von den Regionalautonomien, die in zentralistischen Staaten (Frankreich, Großbritannien, Ukraine) eingerichtet worden sind bzw. einen in verschiedener Hinsicht bedeutenden Teil des Zugehörigkeitsstaats umfassen.
Frankreich, früher in der Gestaltung seiner Rechtsordnung oft Vorbild des türkischen Staats, hat nur seinen ehemaligen Kolonien in Ozeanien Neukaledonien und Französisch-Polynesien Autonomie eingeräumt, nicht den ethnischen Minderheiten im Mutterland. Auch Korsika hat bisher keine echten Legislativkompetenzen erhalten. Schottland hat im Zuge der britischen devolution 1998 eine solide Autonomie erhalten, die jetzt unter dem Druck der regierenden Scotch National Party weiterentwickelt wird. Die Autonome Region der Krim ist eine dreisprachige Region, die über die dort indigene Volksgruppe der Tataren auch zur Türkei eine besondere Beziehung hat. Dasselbe gilt für das autonome Gagausien in Moldawien, eingerichtet für das christliche Turkvolk der Gagausen, die von der Türkei vor allem kulturell protegiert werden.
Italien ist seit 1948 ein Regionalstaat mit fünf Sonderautonomien (Sizilien, Sardinien, Aostatal, Friaul-Julisch Venetien und Trentino-Südtirol), die aus geschichtlichen, ethno-linguistischen und geographischen Gründen eine weiter reichende Autonomie erhalten haben als die übrigen 15 "Regionen mit Normalstatut".
Auch die Autonomen Gemeinschaften Spaniens, insbesondere jene der "historischen Nationalitäten" der Basken, Katalanen und Galizier, können als fortgeschrittene Autonomien mit umfassenden legislativen und exekutiven Kompetenzen betrachtet werden. Das neue Autonomiestatut Kataloniens von 2006 bildet mit Sicherheit die Grundlage für eine der umfassendsten Autonomien Europas, und zwar für das größte Volk Europas ohne eigenen Staat. Gleichzeitig ist Katalonien mit 7,2 Mio. Einwohnern bevölkerungsmäßig die zweitgrößte autonome Region Europas nach Andalusien. Das Baskenland (ähnlich auch Navarra) und Katalonien haben nicht nur eine stärker ausgebaute Finanzautonomie, sondern auch eine autonome Polizei und zusätzliche Rechte in der Verwaltung der Gerichtsbarkeit und im Zivilrecht.
Die jüngste Autonomie Europas ist jene der Vojvodina in Serbien. Diese multiethnische Region im Norden Serbien hatte bereits einen autonomen Status innerhalb der Teilrepublik Serbien in Jugoslawien zwischen 1974 und 1990, der allerdings unter dem Milosevic-Regime gleichzeitig mit der Autonomie des Kosovo abgeschafft worden war. Nun hat am 30 November 2009 das serbische Parlament in Belgrad das neue Autonomiestatut, das die Vojvodina ein Jahr zuvor vorgelegt hatte, genehmigt und so konnte die Vojvodina einen Großteil seiner früheren Autonomie mit 14. Dezember 2009 zurückerhalten. Dies kann als positives Signal des serbischen Staates gewertet werden, der sich sowohl gegenüber seinen Nachbars Rumänien, Ungarn und Kroatien öffnet, als auch auf eine EU-Mitgliedschaft vorbereitet. Es zeigt, dass auch stark nationalistisch geprägte Staaten sich zur Gewährung von Regionalautonomien durchringen, sofern bestimmte Rahmenbedingungen gegeben sind, in diesem Falle eine klare serbische Bevölkerungsmehrheit in der Vojvodina und eine alte Tradition der Selbstverwaltung.
Die in diesen 40 europäischen Regionen (Eigentlich müsste es lauten: "europäischen und zu europäischen Staaten gehörenden Regionen...") institutionalisierte Territorialautonomie hat diesen Gebieten einen unterschiedlich hohen Grad politischer Eigenständigkeit und freier Regulierung zahlreicher wichtiger Politikfelder verschafft. Der damit in nunmehr 12 europäischen Staaten seit 1921 gesammelte Erfahrungsschatz könnte weltweit bei Konflikten zwischen Zentralstaaten und ethnisch von der Titularnation des Staates verschiedenen Teilgebieten noch besser ausgeschöpft werden. Zudem sind diese Autonomien nicht abgeschlossen, sondern werden in einem Reformprozess ständig weiter entwickelt. Diese funktionierenden Autonomien entkräften tagtäglich die Skepsis vieler Zentralstaaten, die Autonomie immer noch als ersten Schritt zur Sezession betrachten. Nur in wenigen Ausnahmefällen (Schottland, Grönland, Baskenland, Neukaledonien) gibt es stärkere Sezessionstendenzen).
Mit Autonomie können alle wesentlichen Aufgaben zur Erhaltung der kulturellen Identität kleinerer Völker und Volksgruppen auf regionaler Ebene gestaltet werden, ohne Staatsgrenzen verändern zu müssen. Damit schafft Selbstregierung und Autonomie schafft Frieden und Stabilität in pluriethnischen Regionen. Dabei kommt es wesentlich darauf an, dass in mehrsprachigen autonomen Regionen eine konkordanzdemokratische Beteiligung aller Gruppen an der Macht hergestellt wird wie z.B. in Nordirland, auf der Krim und in Südtirol.
Wie kann Autonomie für die Lösung offener Konflikte besser zum Zug kommen? Es braucht vor allem den Konsens innerhalb einer Minderheit oder eines Minderheitenvolkes oder einer ganzen Region für eine Autonomielösung, denn Autonomie ist nirgendwo geschenkt worden. Dann die Einsicht der Zentralstaaten, dass Autonomie in den meisten Fällen Stabilität und Ausgleich gebracht hat und die Einheit des Staates nicht gefährdet hat. Wie Föderalismus bietet Autonomie einen Weg zur Selbstregierung regionaler Gemeinschaften ohne Staatsgrenzen zu verändern. Schließlich braucht es in Zukunft wohl zusätzlich auch ein international verankertes, kollektives Recht auf Territorialautonomie, worauf sich beide Konfliktparteien berufen könnten. Es ist an der Zeit, diese Idee und diesen Vorschlag wieder aufzugreifen, und zunächst wohl in Europa diese Forderung neu vorzulegen. Hier hat vermutlich Europa wiederum eine Vorreiterrolle zu spielen.
Europa ist heute auf staatlicher Ebene in 47 Staaten gegliedert, 10 davon sind Kleinstaaten mit weniger als einer Million Einwohnern. Zwei Gebiete haben sich abgespalten und sind international noch von fast niemandem anerkannt worden (Transnistrien und die Republik Nordzypern. Die Sezessionsgebiete der transkaukasischen Staaten Georgien und Aserbaidschan (Abchansien, Südossetien, Berg-Karabagh) zählen geographisch nicht zu Europa.). Der geschichtliche Prozess der Bildung von Nationalstaaten scheint mit der Gründung der Republik Kosovo im Februar 2008 zu einem Endpunkt gekommen zu sein. Doch sind geschichtlich und sprachlich-ethnisch begründete Forderungen nach mehr Eigenständigkeit, Autonomie und gar Selbstbestimmung in verschiedenen Teilen Europas sehr lebendig. Einige europäische Staaten sind ihrer inneren multiethnischen Komplexität mit einer föderalen Staatsstruktur z.T. sehr erfolgreich gerecht geworden (Schweiz, Belgien, in weit geringerem Maße Bosnien-Herzegowina), während andere Staaten die regionalen Besonderheiten mit "asymmetrischen Regionalstaaten" institutionell abdecken, wie etwa Spanien und Italien, auch Serbien vor 1989.
Verschiedene Regionen mit einem erheblichen Anteil an ethnischen-sprachlichen Minderheiten streben die Anerkennung von Autonomierechten an, wie Korsika, das Szeklerland in Rumänien, der Sandschak in Serbien, während in einzelnen, bereits autonomen Regionen starke politische Bewegungen existieren, die eine Weiterentwicklung oder gar staatliche Eigenständigkeit ihrer Region befürworten. Dies gilt für das Baskenland und Katalonien, für Schottland, die Färöer und Grönland, in geringerem Maße für Südtirol. Daneben ist in Europa auch generell auf der Ebene der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen eine Entwicklung zu verzeichnen, die im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die regionale Selbstregierung ausbauen will, also auch in jenen Staaten, die nach wie vor alle Gesetzgebungsgewalt im Zentralstaat konzentrieren. Dies gilt für einige größere Staaten, wie z.B. für Rumänien, Polen, Frankreich und wohl auch für die Türkei, egal ob man sie zu Europa zählen will oder nicht.
Jedes der heute funktionierenden Autonomiesysteme hat seine Besonderheiten, die auf die spezifischen Bedingungen und Erfordernisse zugeschnitten worden sind. Entsprechend den Verhältnissen einer Region und nationalen Minderheiten weist jedes seine eigene "Architektur" auf, um Minderheitenen zu schützen, alle Volksgruppen an der Macht zu beteiligen, Konflikte politisch zu regeln. Die Territorialautonomien sind nie abgeschlossene Systeme, sondern Rechtssysteme, die kontinuierlich reformiert und verbessert werden. Naturgemäß sind Autonomien dynamisch, um Raum für Anpassungen in einer sich entwickelnden Gesellschaft zu bieten. Es gibt andererseits einige Faktoren und Bedingungen, die man als Schlüsselfaktoren für Erfolg bezeichnen kann, die eine vertiefte vergleichende Analyse herausarbeiten könnte.
Aus einer vergleichenden Analyse der bestehenden Autonomiesysteme können in diesem Sinne einige Lehren aus den bisher gewonnenen Erfahrung mit Autonomie gezogen werden:
Aus den verglichenen Erfahrungen geht hervor, dass Autonomie sich nicht zerstörerisch auf die territoriale Integrität auswirkt. Forderungen nach Sezession und Sezessionsbewegungen traten vielmehr dort auf den Plan, wo Autonomie entweder zurückgenommen oder verweigert wurde (Süd-Ossetien, Ost-Timor, Kosovo, Türkisch-Kurdistan, Tamil Eelam, Burma/Myanmar). Sezessionsbewegungen sind in jenen Regionen stark, wo Autonomie entweder nicht angewandt wird oder Autonomieversprechungen seitens des Staates nicht eingehalten worden sind (z.B. Chittagong Hill Tracts in Bangladesh, Westpapua in Indonesien). Autonomie kann im Licht der weltweiten Erfahrungen damit eher als eine "win-win"-Lösung betrachtet werden.
Ist eine Autonomielösung für die mehrheitlich von Kurden besiedelten Gebiete der heutigen Türkei denkbar? Natürlich, genauso wie im Irak eine territoriale Autonomie für die Kurden (allerdings im Rahmen eines Bundesstaats) eingerichtet worden ist und wie dies in Iran und Syrien geschehen könnte, wo Kurden in relativ hohem Ausmaß geografisch konzentriert leben. Kann eine solche Autonomie eine dauerhafte Lösung für den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den mindestens 15 Millionen Kurden der Türkei bieten? Und welche funktionierende Autonomie Europas hat am ehesten Modellcharakter für ein derartiges Projekt? Wissenschaftler scheuen vor solchen Übertragungen von spezifischen Konfliktlösungen von einem historischen Fall auf ein ganz anderes Konfliktgebiet eher zurück. Tatsächlich ist jedes bestehende Autonomiesystem auf einen spezifischen geschichtlichen Hintergrund entstanden und einen besonderen politischen und kulturellen Bedarf zugeschnitten. Die jeweilige Lösung hatte ihren einzigartigen Verlauf und zielt auf die Erfüllung der Interessen bestimmter Volksgruppen oder ethnischer Gruppen ab. Andererseits ist Autonomie eine präzis definierte Machtteilung zwischen Zentralstaat und einer spezifischen Region, die Grundelemente sind bei jeder Autonomie vergleichbar, ihre Effizienz kann empirisch evaluiert, ihr Erfolg oder Misserfolg abgeschätzt werden. Wir können also theoretisch die erforderlichen Grundmerkmale einer Autonomielösung für Türkisch-Kurdistan festlegen und daraus ableiten, wie der türkische Staat seine Rechtsordnung und seinen innere Kompetenzenverteilung entsprechend anzupassen hat. Nicht allumfassende Autonomiesysteme, etwa jenes Kataloniens, Schottlands oder Acehs können übertragen werden, sondern eine Auswahl von einzelnen Institutionen, Regelungen und Gestaltungselementen. Es geht um Elemente wie
So bieten etwa Schottland und Nordirland, auch nicht die Åland Inseln oder Sizilien oder Sardinien für Türkisch-Kurdistan brauchbare Regeln für die Sprachenpolitik, wohl aber Katalonien, das Baskenland und Südtirol. Man kann hier viel von den Erfahrungen anderer lernen. Ausgehend von dieser Überzeugung bleibt es den Konfliktparteien nicht, in langwierigen Verhandlungen ein passendes Autonomiearrangement herauszuarbeiten, das einen gegebenen Konflikt lösen kann. Vermittlungsanstrengungen müssen beide Elemente in ein Gleichgewicht bringen: die Standardelemente und "Grundbausteine" einer Autonomieregelung mit ihren geschichtlich erprobten Anwendungsformen einerseits, und das reale Konfliktszenario mit seiner einzigartigen Ausprägung im Hier und Jetzt.
Es gibt heute zahlreiche Regionen, wo offen ethnische Gruppen oder ganze Völker diskriminiert und unterdrückt werden, und die zu gewaltsamen Reaktionen der Betroffenen geführt haben. Autonomiemodelle als Lösung solcher Konflikte zu entwickeln ist keine politische science fiction, sondern eine ernsthafte Aufgabe angewandter Rechts- und Politikwissenschaft, die von internationaler Mediatoren wie z.B. Marti Ahtisaari mehrfach erfolgreich bearbeitet worden ist. In einem guten Teil dieser Konflikte scheint eine Autonomielösung auch deshalb rational und viel versprechend zu sein, weil:
In meinem jüngst erschienen Buch über "Modern Autonomy Systems" sind 13 Regionen auf allen Kontinenten aufgelistet, die derzeit für eine solche Lösung konkret in Frage kommen, darunter auch die Gebiete mit einer kurdischen Bevölkerungsmehrheit der Türkei. Kommt eine Autonomielösung für Türkisch-Kurdistan in Frage? Angesichts des kemalistischen Dogmas des türkischen Einheitsstaats, das seit der Gründung dieses Staats ethnischen Minderheiten und kleineren Völkern zunächst die Existenzberechtigung und auf jeden Fall bis heute die Gleichberechtigung abgesprochen hat, scheinen die Chancen für die Errichtung autonomer Gebiete in der Türkei sehr schlecht zu stehen. Die in der Türkei tief verwurzelte Idee eines zentralistischen Einheitsstaats scheint sich mit der Vorstellung von Sonderbefugnissen für Teilgebiete oder sprachlich-ethnisch begründeter Autonomie für einen erheblichen Teil des Landes nicht zu vertragen. Auch wenn in den Jahren seit Beginn der AKP-Regierung unter Erdogan sich einiges für die Rechte der Kurden verbessert hat, ist man von europäischen Standards des Minderheitenschutzes noch sehr weit entfernt. Und auch wenn die Türkei Kulturautonomie und Territorialautonomie ihr nahe stehender Volksgruppen oder Ethnien im Ausland schätzt, etwa in Gagausien, auf der Krim oder in Ost-Turkestan (wo es jedoch nicht funktioniert), läuft eine ethnische begründete Autonomie einem der Kerngedanken des Kemalismus zuwider, nämlich dem einheitlichen türkischen Staatsvolk.
Eine Aufwertung der Regionen bis hin zu einer regionalen Verwaltungsebene mit Legislativkompetenzen für gewählte Regionalversammlungen würde ja für einen großen Flächenstaat wie die Türkei schon aus demokratischer Perspektive und Subsidiaritätserwägungen Sinn machen. Somit ist Autonomie für Türkisch-Kurdistan auch im Rahmen einer begrenzten Regionalisierung des Gesamtstaats denkbar. Doch gerade im Fall Türkisch-Kurdistans steht eine zusätzliche Hypothek im Raum, nämlich der geschichtlich und völkerrechtlich begründete Anspruch auf Selbstbestimmung der Kurden. Somit werden derzeit die weitreichenden, gut funktionierenden Regionalautonomien Spaniens oder Dänemarks von der Türkei wohl eher als gefährliche Beispiele der Förderung von Abspaltungstendenzen präsentiert: wenn in Katalonien, Schottland, im Baskenland oder in Quebéc von freier Assoziation oder Volksabstimmungen zum künftigen Status des Gebiets die Rede ist, wird Autonomie der türkischen Öffentlichkeit sicherlich nicht als dauerhafte Lösung ethnischer Konflikte gedeutet, sondern als institutioneller Stufenweg zur Sezession.
Dennoch muss es zwischen der Ablehnung jeglicher Selbstverwaltungsrechte und der Durchsetzung von Selbstbestimmungsforderung einen Mittelweg geben. Immerhin konnten auch bei sehr gewaltsam ausgetragenen Konflikten zwischen Zentralstaaten und Völkern bzw. Regionen mit unterschiedlich ethnischer Zusammensetzung Territorialautonomie als Kompromisslösung etabliert werden, wie z.B. In Nordirland, im indonesischen Aceh, im muslimischen Teil Mindanaos, im indischen Bodoland. In dieser Hinsicht spielen die internationalen Rahmenbedingungen eine ebenso bedeutende Rolle wie die tragende Staatsideologie. Ganz wesentlich ist dabei, dass die EU, die Kopenhagener Kriterien für den EU-Beitritt der Türkei nicht so wie im Falle Rumäniens oder der Slowakei handhabt, sondern die Erfüllung der Minderheitenschutz-Standards so streng auslegt, dass nur Territorialautonomie sie erfüllen kann. Überdies bildet die Existenz eines halbwegs freien Kurdistans jenseits der Grenze im Irak für türkische Nationalisten eine dauerhafte Kritik ihrer Politik gegenüber den 15-20 Millionen Kurden der Türkei. Eine internationale Verankerung von Autonomierechten wiederum würde von der Türkei als untragbarer Eingriff in die Souveränität abgelehnt. Wenn jedoch begreiflich gemacht werden kann, dass Autonomie auch einen einschneidenden und rechtlich verbrieften Verzicht beider Konfliktparteien bedeutet, nämlich den Verzicht auf den Einheitsstaat einerseits, auf Sezession andererseits, und Autonomie zu Befriedung, mehr Demokratie, Stabilität, gutnachbarschaftlichen Beziehungen und zur positiven sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung eines Landesteils führt, könnte und sollte eine neue Generation demokratisch denkender Türken eine solche Lösung ernsthaft in Betracht ziehen.
Der Autor arbeitet mit der EURAC Bozen zusammen und hat für die GfbV verschiedene Beiträge zur Autonomie weltweit verfasst. 2009 erschienen in den EURAC-Webseiten: The World's Modern Autonomy Systems: www.eurac.edu/Org/Minorities/IMR/Projects/asia.htm, und A Short Guide to Autonomy in South Asia and Europe, auf: www.eurac.edu/Org/Minorities/eurasia-net/PROJECT+DELIVERABLES.htm. Auf Deutsch erschien zu diesem Thema: Thomas Benedikter, Autonomien der Welt, ATHESIA, Bozen 2007.
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurd-pol.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/zana.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kursido-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/yezid-de.html |
www.gfbv.it/3dossier/kurdi/wm-de.html |
www.gfbv.it/3dossier/war/gutman-rieff.html#r3
| www.gfbv.it/3dossier/armeni/010720armeni.html
| www.gfbv.it/3dossier/war/gutman-rieff.html#r3
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurzuelch-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html |
www.gfbv.it/2c-stampa/2009/090403de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2009/090325de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2009/090320ade.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2009/090220de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/081017de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/081007de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/080728de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/2008/080212de.html
in www: www.kurdistan.de | www.komkar.org | www.ihd.org.tr/eindex.html
| http://de.wikipedia.org/wiki/Kurdistan
| www.azadiyawelat.com