Von Thomas Benedikter
Bozen, 18.2.2008
Das Kosovo ist unabhängig: Aufwind für
Sezessionsbewegungen in aller Welt? Präzedenzfall für
abgespaltene Gebiete, sich ebenfalls für unabhängig zu
erklären? Nein. Zuallererst ist Kosovo ein
Präzedenzfall in anderer Hinsicht. Das kleine Land ist seit
1912 mehrfach zwangsweise dem serbischen Staat einverleibt und
zum Schluss mit Massakern, Krieg und flächendeckender
Vertreibung überzogen worden. Es war notwendig und richtig,
dass ein Teil der Staatengemeinschaft 1999 unter dem Eindruck des
Debakels in Bosnien-Herzegowina eingegriffen hat. Das
demokratische Europa und die USA übernahmen damals die
Verantwortung, die Menschenrechte und Sicherheit von zwei
Millionen Albanern über die heilige Kuh der staatlichen
Souveränität zu stellen. Die Kosovo-Intervention 1999
war einer wenigen Fälle, wo die UN-Konvention gegen
Völkermord von 1948 ernster genommen worden ist als
bisher.
Dieser Eingriff und das nachfolgende Arrangement für
internationalen Schutz und Verwaltung des Gebiets sollte der
eigentliche Präzedenzfall sein: die neue Formel der UNO
"Responsibility to protect" wäre zu etablieren, nämlich
kein Respekt vor Staatsgrenzen, wenn es zu Völkermord und
Massenvertreibung kommt. So weit ist es noch nicht. Wäre dem
so, hätten in Darfur nicht 200.000 Menschen sterben
müssen, bevor sich die UNO zu einem begrenzten Einsatz
durchrang. Der Bevölkerung des Kosovo war es nach den
traumatischen Erfahrungen unter serbischer Herrschaft nicht
zuzumuten, wieder unter die Souveränität Serbiens
zurückzukehren. In diesem Sinne könnte der Fall Kosovo
jenen Staaten, die heute kleinere Völker und nationale
Minderheiten unterdrücken, deutlich machen: die Gefahr eines
Sezessionskonflikts und schließlich einer humanitären
Intervention droht dort, wo Minderheiten systematisch
unterdrückt werden. Sie droht nicht, wenn kleinere
Völker und Minderheiten geschützt und gerecht behandelt
werden.
Die Unabhängigkeit des Kosovo darf hingegen kein
Präzedenzfall für die demokratische Politik im Europa
des 21. Jahrhundert sein, die vor der Aufgabe steht, es nicht
mehr soweit kommen zu lassen wie im Kosovo. Alle Länder
Europas mit größeren Minderheiten haben andere Mittel
in der Hand, den berechtigten Anliegen und Grundrechten dieser
Gruppen gerecht zu werden. Eine Sezession ist viel schwieriger zu
legitimieren, wenn eine Minderheit oder ein kleineres Volk in
einem Staat alle wesentlichen Minderheitenrechte und vielleicht
auch Autonomie genießt wie die Schotten, die Basken, die
Katalanen oder halt wir Südtiroler. Im Kosovo war Sezession
die Notbremse, um letztendlich einem ganzen Volk eine Zukunft in
Sicherheit und Freiheit zu bieten. In anderen Gebieten stehen,
unter Wahrung demokratischer Entscheidungsfreiheit, auch andere
Optionen offen, auch in solchen, die sich schon abgespalten
haben, wie Transnistrien, Südossetien oder Nordzypern.
Das Kosovo ist jetzt unabhängig, aber unter internationaler
Aufsicht gemäß Ahtisaari-Plan, insbesondere
bezüglich Minderheitenschutz. Das schließt das
Rückkehrrecht der serbischen Flüchtlinge und vielleicht
Formen von Autonomie für das Gebiet um Mitrovica und
serbische Enklaven ein. Je besser dies gelingt, desto eher werden
die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo nachlassen. Man konnte
nicht erwarten, dass das Kosovo in diesen 8 Jahren der
UNMIK-Verwaltung eine neue Schweiz wird, aber es hat wesentliche
Fortschritte gemacht und wird mit Hilfe der EULEX dieser Aufgabe
noch besser gerecht. Über kurz oder lang wird der Westbalkan
Innenraum der EU sein und wird sich auch deshalb allen Standards
der EU in dieser Hinsicht anzupassen haben. Minderheitenschutz
ist im Übrigen ein Gebot in gesamten Balkan und in ganz
Europa. Somit sollten die internationalen Standards und die
entsprechende Überwachung für alle gelten, auch
für Serbien, oder für Griechenland und die Türkei,
die überhaupt keine Minderheiten anerkennen. Wenn alle
Länder des Balkans den Minderheitenschutz ernst nehmen,
werden die "großen nationalen Lösungen" von
Groß-Serbien bis Groß-Albanien endgültig
Gespenster der Vergangenheit sein.
Thomas Benedikter (Autor des Bands "Il dramma del
Kosovo", DATANEWS, Roma 1998).