Bozen, Göttingen, 15. Juni 2006
Ramzan Kadyrow hat in den 100 Tagen seiner Herrschaft als
Ministerpräsident Tschetscheniens die Atmosphäre der
Angst und des Misstrauens in der Nordkaukasusrepublik
verschärft. "Durch eine beispiellose PR-Kampagne ist es
diesem Kriegsverbrecher zwar gelungen, nach außen den
Anschein zu erwecken, unter seiner Führung sei die Lage
stabil und Tschetschenien werde wiederaufgebaut", berichtete die
Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Donnerstag.
"Doch hinter dieser Fassade sieht es ganz anders aus: Jeder
fürchtet sich vor Denunziation selbst durch Bekannte,
Nachbarn oder Freunde, niemand ist sicher vor Entführung,
Folter oder Mord." Auch der Krieg der russischen Armee gegen
Tschetschenien sei noch immer nicht zu Ende, denn die
unzugängliche südliche Bergregion Tschetscheniens werde
weiterhin von russischer Artillerie beschossen.
"Hunderte von Menschen sind seit Amtsantritt von Kadyrow spurlos
verschwunden", sagte die GfbV-Referentin für die
GUS-Staaten, Sarah Reinke. Vor allem Männer im Alter von 16
bis 40 Jahren seien ständig in Gefahr. Augenzeugenberichten
zufolgte stürmen die Einheiten Kadyrows bei so genannten
Säuberungen meist nachts die Häuser, verschleppen die
männlichen Bewohner und sperren sie in Kellern oder geheimen
Gefängnissen ein. Systematisch werden ihre Opfer durch
Schläge, Stromstöße und das Amputieren von
Gliedmaßen gefoltert. So sollen sie gezwungen werden
zuzugeben, dass sie am bewaffneten Kampf der Tschetschenen
teilnehmen oder Namen mutmaßlicher Kämpfer preisgeben.
Dabei soll Kadyrow auch immer wieder selbst Hand angelegt haben.
40 Prozent der Verschleppten tauchen nie wieder auf. Erst vor
wenigen Tagen wurde ein illegales Gefängnis, in dem noch bis
Mai 2006 Menschen unter entsetzlichen Bedingungen gefangen
gehalten wurden, in Grozny entdeckt. Kadyrow ließ Teile des
Gebäudes abreißen und so wichtiges Beweismaterial
vernichten.
Gern präsentiere sich Kadyrow als Architekt des
Wiederaufbaus in Tschetscheniens, berichtete Reinke. Doch der
29-Jährige baue nur potemkinsche Dörfer auf,
täusche systematisch sowohl Tschetschenen als auch Russen
über den Fortschritt in seiner Republik. "Hinter erneuerten
Fassaden bleiben die Häuser unbewohnbar, es gibt weder
fließendes Wasser noch Heizung. Von humanitärer Hilfe
oder Aussicht auf Arbeit können Zivilisten nur
träumen." Ein Indikator für die katastrophale
humanitäre Lage sei die Säuglingssterblichkeit von 22
Prozent. EU-Gelder und auch Gelder, die Russland für den
Aufbau zur Verfügung stellt, versickerten in den korrupten
Kadyrow'schen Strukturen.
Der Personenkult, den Kadyrow um sich selbst aufgebaut hat,
könnte Tschetschenien in einen Bürgerkrieg nach
afghanischem Muster stürzen, fürchtet die GfbV. Sein
Konterfei ist auf Plakaten in ganz Grozny zu sehen, in den Medien
gibt es zahllose Berichte über ihn. Um vor den Wahlen im
Oktober Anhänger zu gewinnen, plädiert er für die
Einführung der Scharia und überreicht Frauen, die bei
öffentlichen Veranstaltungen ein Kopftuch tragen, 1.000
Dollar oder schenkt einer Mutter ein Auto, die ihren Sohn nach
ihm benannte. "So schürt er Unmut bei seinen
tschetschenischen Rivalen, den Kommandeuren der pro-russischen
West- und Ostbataillone, Sulim Jamadajew und Said Magomed Kakiew,
die vom militärischen Auslandsnachrichtendienst GRU
unterstützt werden, aber auch bei seinem Konkurrenten
Movladi Bajsarow, der vom Inlandsgeheimdienst FSB protegiert
wird", meint Reinke. In den letzten Woche häufen sich
Zusammenstöße zwischen den Einheiten von Kadyrow und
den Männern dieser gleichfalls von Russland gestützten
Kriegsfürsten.